Das Comeback einer gefährlichen Idee - Wie der Sozialdarwinismus – einst ideologische Grundlage von Eugenik und Massenmord – im politischen Diskurs neu verpackt wird.
- Richard Krauss
- vor 4 Tagen
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Aktualisiert: vor 3 Tagen
Der Sozialdarwinismus ist nicht verschwunden. Er hat nur die Sprache gewechselt. Statt mit den groben Schlagworten des 19. Jahrhunderts oder der mörderischen Rhetorik der NS-„Rassenhygiene“ tritt er heute in polierten Begriffen auf: „Leistungsgerechtigkeit“, „Eigenverantwortung“, „Anreizorientierung“.

Hinter der modernen Fassade steht jedoch dieselbe Logik: Wer schwach ist, wer nicht mithalten kann, wird zur Belastung erklärt – und wer fällt, hat keinen Anspruch auf Rettung.
Das Muster ist historisch bekannt. Herbert Spencer prägte den Satz „Survival of the Fittest“ nicht als biologische Beschreibung, sondern als moralischen Imperativ einer Gesellschaft, die Konkurrenz zum höchsten Wert erklärte.
Ernst Haeckel deutete nationale Überlegenheit und militärische Stärke als Ausdruck biologischer Höherentwicklung. Solche Ideen lieferten den ideologischen Unterbau für die Eugenikbewegung, für Zwangssterilisationen und letztlich für den nationalsozialistischen Massenmord.
Heute wagt kaum jemand, dieses Erbe offen zu reklamieren. Doch seine Mechanismen wirken – im Parlament, in Parteiprogrammen, in den beiläufigen Formulierungen von Talkshows.
Parteien: Von der offenen bis zur codierten Härte
Bei der AfD ist die ideologische Nähe unverhüllt. Bürgergeld nur noch für sechs Monate, danach „Bürgerarbeit“. Inklusive Bildung? Ein „ideologisches Projekt“.
Im Bundestag Enthaltung bei der Gedenkstunde für die als „asozial“ verfolgten NS-Opfer – mit der Begründung, manche seien „Kriminelle“ gewesen. Das ist nicht nur Geschichtsvergessenheit, es ist die Wiederbelebung der Unterscheidung zwischen „wertvollem“ und „unwertem“ Leben in politischer Sprache.
Die FDP nutzt einen anderen Code.
„Leistung muss sich wieder lohnen“, wiederholt Christian Lindner wie ein ökonomisches Grundgesetz. „Entlastung der Leistungsträger“ ist das Leitmotiv – wer damit gemeint ist, versteht sich von selbst. Wolfgang Kubicki plädierte während der Pandemie für weitreichende Lockerungen, auch wenn dies die Gefährdung von Risikogruppen bedeutete.
Es ist die Priorisierung wirtschaftlicher Freiheit über den Schutz der Verletzlichen – eine Gewichtung, die dem sozialdarwinistischen Denken nahesteht, ohne es auszusprechen.
Auch die SPD trägt Ambivalenzen.
Thilo Sarrazin erklärte in „Deutschland schafft sich ab“, Migranten und Arme hätten eine höhere Geburtenrate, die „Deutschland dümmer“ mache.
Parteichef Sigmar Gabriel sprach damals von „Relativierungen“. Wer solche Thesen nicht entschieden zurückweist, sondern sie in den Bereich des Sagbaren entlässt, lässt den Ideenraum für Ausgrenzung offen.
CDU/CSU: Brandmauern mit Löchern
Carsten Linnemann forderte: „Wer nicht eingezahlt hat, kann nicht das Gleiche bekommen wie jemand, der 30 Jahre gearbeitet und eingezahlt hat.“
Gitta Connemann warnte vor einer „Kultur der Anspruchshaltung“.
Katherina Reiche sprach von der Notwendigkeit, „Anreize zu setzen, aus eigener Kraft wieder Fuß zu fassen“.
Friedrich Merz beschuldigte 2022 ukrainische Geflüchtete des „Sozialtourismus“.
Solche Aussagen sind kein offener Sozialdarwinismus, aber sie reproduzieren seine Grundannahme: den Wert eines Menschen an seiner ökonomischen Produktivität zu messen und Unterstützung selektiv zu verteilen.
Grüne und Linke: Antithese oder Anspruchsproblem?
Die Grünen und die Linke profilieren sich programmatisch als Gegenpole zu sozialdarwinistischen Denkweisen. Bei den Grünen steht der Schutz vulnerabler Gruppen im Zentrum – ökologisch wie sozial – und wird mit dem Leitbild einer „solidarischen Gesellschaft“ verknüpft.
So fordern sie etwa eine Kindergrundsicherung, um Armut strukturell zu bekämpfen, und setzen sich für eine inklusive Migrationspolitik ein, die Geflüchtete nicht nach ökonomischer Verwertbarkeit sortiert.
Auch die Linke beruft sich auf eine explizit egalitäre Grundhaltung, etwa mit dem Ziel eines kostenfreien ÖPNV, einer Vermögenssteuer für Superreiche und dem Ausbau öffentlicher Daseinsvorsorge. Beide Parteien lehnen öffentlich jede Form der Hierarchisierung menschlicher Würde ab und positionieren sich klar gegen rechtsextreme Narrative.
Doch zwischen Anspruch und Wirklichkeit zeigen sich Brüche: Die Grünen werden von Kritikern zunehmend als zu kompromissbereit in Koalitionen wahrgenommen – etwa bei der Ablehnung eines generellen Abschiebestopps nach Afghanistan und Syrien oder beim langsamen Vorantreiben der Kindergrundsicherung unter finanzpolitischem Druck.
Die Linke wiederum leidet unter inneren Zerwürfnissen und verliert so an politischer Schlagkraft, um als Stimme gegen illiberale Entwicklungen wirksam zu sein. So stehen beide Parteien vor der Herausforderung, ihre theoretische Antithese zum Sozialdarwinismus in der praktischen Politik beständig zu verteidigen – auch dann, wenn politischer Druck oder Koalitionslogik zur Verwässerung zentraler Prinzipien verführt.
Auf dem Papier verpflichten sich die Parteiprogramme zu Menschenwürde, Gerechtigkeit und dem Schutz der Schwachen. Doch zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft eine Lücke. „Fördern und Fordern“ kann in der politischen Praxis schnell zu „Fordern ohne Fördern“ werden.
Theologische Gegenmodelle
Wolfgang Huber, ehemaliger Ratsvorsitzender der EKD, definiert in Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod Freiheit nicht als grenzenlose Selbstentfaltung, sondern als Verhältnisbegriff:
„Freiheit muss so gestaltet werden, dass sie allen einen möglichst gleichen Zugang zu ihr ermöglicht.“ Für ihn ist Selbstbestimmung untrennbar mit Verantwortung verbunden. Freiheit, die das gemeinsame Leben zerstört, ist keine wahre Freiheit.
Eugen Biser verschiebt in seiner „Modalanthropologie“ den Blick vom Sein auf das Werden: nicht, was der Mensch ist, sondern was er werden kann. Die „Gotteskindschaft“ nennt er die „höchste Form menschlicher Freiheit“ – eine Freiheit, die jedem gilt, unabhängig von Leistung oder Status. Biser warnt vor „rückschlägigen Utopien“:
Fortschrittsversprechen, die am Ende Entfremdung erzeugen. Ein Wettbewerb, der Schwache opfert, ist für ihn eine solche rückschlägige Utopie – rational im Gewand, tatsächlich menschenzerstörend.
Beide Theologen setzen dem Sozialdarwinismus eine Ethik entgegen, die Verantwortung und Solidarität ins Zentrum rückt.
Hubers Verantwortungsethik, Bisers Gotteskindschaft – sie widersprechen sowohl der offen harten Rhetorik eines Björn Höcke als auch den verklausulierten Leistungsformeln aus dem liberal-konservativen Lager.
Zivilgesellschaftliche Strategien
Der Widerstand gegen den modernisierten Sozialdarwinismus beginnt nicht in Kabinetten, sondern im Alltag.
Er erfordert eine öffentliche Gegenrede, die ideologische Prämissen entlarvt – die Reduktion des Menschen auf Nützlichkeit, die schleichende Hierarchisierung von Leben.
Er braucht eine politische Bildung, die Diskriminierungslogiken sichtbar macht und Begriffe wie „Leistung“ oder „Freiheit“ historisch erdet.
Gegen-Narrative sind zentral: Kooperation als Stärke, nicht als Luxus. Die Darstellung gelungener Integration, solidarischer Unternehmensmodelle und inklusiver Kommunalpolitik ist kein naives Gegenprogramm, sondern der empirische Beweis, dass Zusammenhalt produktiver ist als die Mythen vom „Jeder für sich“.
Milieuübergreifende Allianzen – Sportvereine, Gewerkschaften, Kirchengemeinden, Kulturinitiativen – schaffen Berührungsräume, in denen pauschale Abwertungen ihre Plausibilität verlieren.
Und es braucht Widerspruch im Kleinen: das scheinbar harmlose Bonmot in der Kantine, der zynische Kommentar in der Chatgruppe – hier entscheidet sich, ob eine Gesellschaft das Gift der Abwertung verdünnt oder es stillschweigend anreichert.
Wissenschaftliche Expertise – aus Geschichtswissenschaft, Soziologie, Ethik – muss in den öffentlichen Diskurs eingespeist werden. Verständlich, ohne intellektuelle Konzessionen. So entsteht die kritische Immunabwehr, die eine wehrhafte Demokratie braucht.
Der Sozialdarwinismus trägt seiner inneren Logik nach illiberale Strukturen in sich. Liberalismus im klassischen Sinn gründet auf der gleichen und unveräußerlichen Würde aller Menschen.
Sozialdarwinistische Denkmuster hingegen unterstellen, dass Menschen in ihrem Wert hierarchisch gestaffelt sind – nach Kriterien wie Leistungsfähigkeit, Anpassung oder „biologischer Qualität“.
Diese Rangordnung steht im direkten Widerspruch zum egalitären Kern liberaler Demokratien.
Wer die Würde relativiert, macht Rechte verhandelbar. (Klöckner Prideflag, Merz Zirkuszelt, Weimer *Diskussion)
Historisch führte genau diese Logik zu politischen Systemen, in denen Teilhabe nicht mehr universell gewährt, sondern selektiv zugeteilt wurde – vom britischen Imperialismus über die eugenischen Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts bis hin zur NS-„Rassenhygiene“.
Illiberal ist dieser Ansatz auch deshalb, weil er strukturell autoritäre Mechanismen erfordert. Sobald der Wert eines Menschen nicht mehr selbstverständlich ist, braucht es Instanzen, die definieren, wer „förderungswürdig“ ist und wer nicht.
Diese Definitionsmacht konzentriert politische Kontrolle und öffnet den Weg zu repressiven Maßnahmen – Einschränkung von Sozialleistungen, gezielte Ausgrenzung, Entzug politischer Rechte.
Der Liberalismus hingegen versteht den Staat als Garanten gleicher Rechte, nicht als Gatekeeper ihrer Vergabe.
Darüber hinaus verändert der Sozialdarwinismus den Begriff des Gemeinwohls grundlegend: Statt ein solidarisches Versprechen zu sein, das Starke und Schwache gleichermaßen einschließt, wird es zur exklusiven Ressource, die nur den vermeintlich Leistungsfähigen zusteht.
Diese Verschiebung schwächt nicht nur das soziale Fundament, sondern höhlt den normativen Kern der Demokratie aus – schleichend, aber nachhaltig. Genau darin liegt die eigentliche Gefahr: Der Sozialdarwinismus zerstört nicht die Institutionen selbst, sondern die Werte, die sie tragen.
Zur Person:
Eugen Biser
Eugen Biser (1918–2014) war einer der einflussreichsten katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Nach einer bewegten Jugend, geprägt von den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, studierte er Theologie, Philosophie und Germanistik.
Als Professor an den Universitäten München, Passau und Salzburg entwickelte er eine „Modalanthropologie“, die nicht fragt, was der Mensch ist, sondern welche Möglichkeiten und Potenziale ihm innewohnen.
Biser verstand Glauben als befreiende Erfahrung und „Gotteskindschaft“ als höchste Form menschlicher Freiheit. Er engagierte sich zeitlebens für eine dialogische Theologie, die christliche Botschaft und moderne Existenzfragen verbindet – und stellte sich damit bewusst gegen jede Ideologie, die den Wert des Menschen hierarchisiert oder auf biologische Kategorien reduziert.
Wolfgang Huber
Wolfgang Huber (*1942) ist evangelischer Theologe, Ethiker und ehemaliger Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Er studierte Theologie und Philosophie in Heidelberg, Göttingen und Tübingen und machte sich früh als Brückenbauer zwischen Kirche, Gesellschaft und Politik einen Namen.
Als Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und EKD-Ratsvorsitzender (2003–2009) prägte er die öffentliche Debatte zu Bioethik, Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit.
In seinem Werk „Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod“ betont er Freiheit als Ausgangspunkt der Ethik – jedoch stets gebunden an die gleiche Würde aller Menschen und die Pflicht zur gegenseitigen Verantwortung.
Huber verbindet protestantische Verantwortungsethik mit klaren Positionen gegen Ausgrenzung und Sozialdarwinismus und gilt als einer der wichtigsten intellektuellen Impulsgeber für eine wertebasierte Zivilgesellschaft.
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