Wie Grimms Sozialstaatsrhetorik Merz zur Waffe wird“
- Richard Krauss

- 26. Aug.
- 3 Min. Lesezeit
Die öffentlichen Auftritte von Veronika Grimm folgen seit Jahren einem wiederkehrenden Muster. Ob im Interview, auf Podien oder als Mitglied des Sachverständigenrats – die Ökonomin inszeniert sich als Mahnerin vor dem drohenden Kollaps. Ihre Diagnose bleibt stets dieselbe: Deutschland lebe „über seine Verhältnisse“, der Sozialstaat sei eine „tickende Zeitbombe“, unfinanzierbar und zum Scheitern verurteilt.

Diese Wortwahl ist alles andere als neutral. Grimm verschiebt die Debatte von politischem Gestalten zu einer angeblich naturgesetzlichen Sachlogik, in der tiefe Einschnitte alternativlos erscheinen. Ihre Botschaft: Weniger Staat, weniger soziale Sicherheit, mehr Eigenverantwortung.
Die nüchterne Rechenbasis wirkt überzeugend: Die Zahl der Beitragszahler pro Rentner ist seit 1945 von sechs auf zwei gefallen, bald könnten es nur noch anderthalb sein.
Folgerung: das Rentenalter müsse schrittweise auf 68 steigen, „Rente mit 63“ und ähnliche Programme seien verantwortungslose Geschenke. Auch im Gesundheitswesen diagnostiziert sie Übermaß – von „unnötigen Operationen“ bis zu einer „falschen Erwartungshaltung“ an den Staat.
Doch ihre marktradikale Brille blendet systematisch aus, dass der Sozialstaat mehr ist als eine Kostenstelle. Sebastian Dullien vom gewerkschaftsnahen IMK hält dagegen: Deutschland liege mit 27 Prozent Sozialausgaben am BIP nur im OECD-Mittelfeld. Reformbedarf ja, vor allem bei Medikamentenpreisen und Klinikstrukturen – aber nicht die pauschale Abrechnung mit dem Sozialstaat.
Grimms Alarmrhetorik trifft dennoch einen Nerv: die Angst vor Abstieg. Studien zeigen, dass weniger die reale Armut, sondern vielmehr der gefühlte Statusverlust Vertrauen in die Demokratie erodiert.
Wer beruflich schlechter dasteht als die Elterngeneration, wählt signifikant häufiger rechtspopulistisch – unabhängig vom Einkommen. 54 Prozent der Deutschen sind inzwischen unzufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie.
Genau hier greifen politische Akteure die Grimm’schen Warnungen auf. Friedrich Merz hat die Rede vom „unfinanzierbaren Sozialstaat“ zum Kern seiner Strategie gemacht, genau der Sozialstaat der in Artikel 20 des Grundgesetzes beschrieben ist. Sein Mantra „Leistung muss sich wieder lohnen“ klingt wie eine Antwort auf die Abstiegsängste – und wird flankiert von Forderungen nach Abschaffung des Bürgergelds und einer „Neuen Grundsicherung“. Eine reine populistische Kommunikationsmaßnahme, denn der Rahmen wird durch das Grundgesetz und die juristische Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht festgelegt.
Sozialpolitische Kürzungen werden so rhetorisch in Aufstiegserzählungen verwandelt. Merz lässt keinen Zweifel:
Begriffe wie „Sozialabbau“ oder „Kahlschlag“ beeindrucken ihn nicht. Die Union will das Renteneintrittsalter faktisch an die Lebenserwartung koppeln – und damit Grimms Linie adaptieren. Was die Professorin ökonomisch zuspitzt, übersetzt die CDU in politische Kampfparolen.
SPD und Grüne weisen diese Lesart zurück. Dirk Wiese nennt Grimms Rezept „neoliberal“ und „zu einfach gedacht“. Andreas Audretsch warnt, Kürzungen würden vor allem Frauen in Altersarmut treiben. Beide Parteien verweisen auf Reformkommissionen und Alternativen wie eine höhere Erwerbsquote von Frauen. Doch ihre Argumente verhallen leiser, während Grimms knappe Sätze zur Schlagzeile taugen.
Das Problem: Diese Rhetorik verschiebt nicht nur den Diskurs, sie vertieft die gesellschaftliche Spaltung. „Leistende“ gegen „Leistungsbeziehende“ – ein Narrativ, das Polarisierung befeuert und Vertrauen in die Demokratie weiter erodiert. Populistische Akteure profitieren von genau dieser Logik.
Der Streit um Grimms Aufsichtsratsposten bei Siemens Energy war deshalb mehr als eine Personalie. Er zeigte, wie eng wissenschaftliche Beratung, politische Interessen und marktradikale Programme miteinander verflochten sind.
Am Ende steht die Frage: Wessen Stimme wird gehört – die des sozialen Zusammenhalts oder die des ökonomischen Kahlschlags?
Glossar:
Bertelsmann Stiftung
Deutsche Stiftung mit Sitz in Gütersloh, die regelmäßig Studien zur Demokratiezufriedenheit und gesellschaftlichen Entwicklung veröffentlicht.
Bürgergeld
Seit 2023 eingeführte Grundsicherungsleistung in Deutschland, die das Hartz-IV-System abgelöst hat. Ziel ist eine vereinfachte und weniger sanktionierende Unterstützung für Erwerbslose.
CDU/CSU
Christlich Demokratische Union Deutschlands und ihre bayerische Schwesterpartei Christlich-Soziale Union. Konservative Parteien, die gemeinsam die Unionsfraktion im Bundestag bilden.
Demokratiezufriedenheit
Grad des Vertrauens der Bevölkerung in die Funktionsweise der Demokratie. In Deutschland äußert mehr als die Hälfte der Befragten Unzufriedenheit.
Friedrich Merz
CDU-Parteivorsitzender und Oppositionsführer im Bundestag. Bekannt für seine marktwirtschaftliche Rhetorik, insbesondere mit Blick auf den Sozialstaat.
Hertie School
Private Hochschule in Berlin mit Fokus auf Governance und Public Policy. Forscht u. a. zu Zusammenhängen von Statusverlust und rechtspopulistischer Wahl.
IMK (Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung)
Gewerkschaftsnahes Forschungsinstitut der Hans-Böckler-Stiftung, das wirtschaftspolitische Analysen erstellt.
OECD
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, internationale Institution mit 38 Mitgliedstaaten. Erfasst u. a. vergleichbare Daten zu Sozialausgaben.
Rente mit 63
Deutsche Regelung, die Versicherten mit 45 Beitragsjahren seit 2014 einen abschlagsfreien Renteneintritt ab 63 Jahren ermöglicht.
Renteneintrittsalter
Gesetzlich festgelegtes Alter, ab dem Arbeitnehmer in Rente gehen können. Aktuell liegt es regulär bei 67 Jahren; Debatten drehen sich um eine Kopplung an die Lebenserwartung.
Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
Unabhängiges Gremium („Wirtschaftsweise“), das die Bundesregierung in Fragen der Wirtschaftspolitik berät.
Siemens Energy
Internationaler Energiekonzern mit Sitz in München. Veronika Grimm war Mitglied des Aufsichtsrats, legte das Mandat aber nach Kritik an Interessenkonflikten nieder.
Sozialausgaben
Staatliche Ausgaben für Rente, Gesundheit, Pflege, Arbeitslosigkeit und andere soziale Sicherungssysteme.
Sozialstaat
Verfassungsprinzip nach Artikel 20 Grundgesetz: Staatliche Verpflichtung, soziale Gerechtigkeit und Sicherheit zu gewährleisten.
Veronika Grimm
Professorin für Volkswirtschaftslehre in Nürnberg und seit 2020 Mitglied des Sachverständigenrats. Bekannt für ihre marktwirtschaftlich geprägten Vorschläge zur Reform von Renten- und Sozialsystemen.
Quellenauszug



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