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Amerikas Sicherheitsstrategie nimmt Europa ins Visier

  • Autorenbild: Richard Krauss
    Richard Krauss
  • vor 20 Stunden
  • 3 Min. Lesezeit

Die neue Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten markiert einen deutlichen Bruch mit jenem außenpolitischen Rahmen, der die transatlantischen Beziehungen über Jahrzehnte geprägt hat. Im Strategiepapier wird Europa in ungewohnter Schärfe als politischer Problemraum beschrieben.

Die Warnung vor einer möglichen „zivilisatorischen Auslöschung“ Europas – eine Formulierung, die im Umfeld der Strategie zentral hervorgehoben wird – signalisiert einen strategischen Perspektivwechsel und verschiebt den Fokus von äußeren Bedrohungen auf innere Fehlentwicklungen. Die EU und andere internationale Institutionen erscheinen dabei nicht als Schutzschirme liberaler Ordnung, sondern als Strukturen, die politische Freiheit eher einhegen als stärken. Diese Diagnose stützt sich auf Passagen der Strategie sowie auf ihre öffentliche Vermittlung, auch wenn einzelne Zuspitzungen analytische Verdichtungen darstellen.


Die Strategie fordert zugleich eine stärkere Rückbesinnung europäischer Staaten auf nationale Identität. Patriotische oder nationalkonservative Parteien, die in vielen Ländern an Einfluss gewinnen, werden in diesem Zusammenhang ausdrücklich positiv gerahmt. Das bedeutet eine klare politische Neuakzentuierung: Während die USA seit 1945 die Integration Europas als zentrales sicherheitspolitisches Ziel gefördert haben, wird die wachsende Fragmentierung nun nicht nur hingenommen, sondern als Chance zur politischen Neuordnung interpretiert. Politikwissenschaftlich lässt sich daraus eine Revision der Nachkriegsordnung ableiten, die sich aus dem Vergleich früherer US-Doktrinen mit der aktuellen Sicherheitsstrategie plausibel begründen lässt.


Besonders folgenschwer ist die Perspektive, die USA sollten politischen „Widerstand“ gegen den europäischen Kurs innerhalb der europäischen Staaten unterstützen. In der strategischen Sprache wird dieser Ansatz als Förderung alternativer politischer Kräfte beschrieben, die sich gegen eine als übergriffig wahrgenommene supranationale Regulierung wenden. Daraus erwächst die begründete Sorge europäischer Beobachter, Washington könne künftig unmittelbarer auf politische Prozesse in EU-Mitgliedstaaten einzuwirken versuchen. Ob es in der Folge zu konkreten Finanzströmen oder operativen Unterstützungsmaßnahmen kommt, ist bislang nicht belegt; analytisch relevant ist vor allem, dass die Strategie diesen Möglichkeitsraum politisch öffnet und damit ein neues Interventionsparadigma andeutet.


Die Strategie hat auch Folgen für den digitalen Raum. Wenn die US-Regierung zentrale europäische Regulierungsansätze – etwa bei Inhaltsmoderation, Plattformhaftung oder Datenschutz – als Ausdruck politischer Unfreiheit deutet, verändert das die Ausgangslage für US-Plattformen, die in Europa operieren. Die Sicherheitsstrategie formuliert zwar keine operative Handlungsanweisung zur systematischen Unterlaufung europäischer Regeln, setzt aber einen klar kritischen Rahmen: Die USA positionieren sich weniger als Partner europäischer Regulierungsbemühungen, sondern zunehmend als Gegenpol zu einem normativ ambitionierten europäischen Digitalmodell. Aus dieser Konstellation lässt sich fachlich begründet ableiten, dass politische Kommunikationsräume in Europa stärker unter Druck geraten könnten – durch Konflikte zwischen US-Plattformlogiken und europäischen Rechtsansprüchen.


Hinzu tritt der historische Kontext. Bereits im frühen Kalten Krieg haben die USA in Europa politische Bewegungen unterstützt, wenn sie als Bollwerke gegen kommunistische oder systemkritische Kräfte galten. Die neue Strategie knüpft nicht explizit an diese Praxis an, öffnet aber konzeptionell die Tür für Einflussnahme, indem sie politischen Widerstand innerhalb europäischer Demokratien selbst zum legitimen strategischen Ziel erhebt. Politikwissenschaftlich bedeutsam ist daher weniger die Annahme konkreter geheimer Operationen als die Feststellung, dass eine normative Selbstbindung gelockert wird, die direkte politische Einflussnahme unter Demokratien lange Zeit zumindest rhetorisch ausgeschlossen hat.


Für Europa bedeutet dies eine strategische Verschiebung. Die USA stellen nicht nur einzelne politische Entscheidungen oder Prioritäten infrage, sondern richten sich gegen zentrale institutionelle Grundlagen, auf denen europäische Politik seit Jahrzehnten aufbaut. Die EU erscheint nicht als unvollkommener, aber reformfähiger Partner, sondern als Ursache politischer Fehlentwicklungen. Sollte dieser Kurs politisch umgesetzt werden, entstünde eine Belastung, die über klassische diplomatische Konflikte hinausreicht und regelgebundene Zusammenarbeit ebenso erschwert wie die gemeinsame sicherheitspolitische Grundlage.


Auch die NATO gerät durch diesen Richtungswechsel unter Druck. Ein Bündnis, in dem ein zentraler Akteur die politischen Strukturen anderer Mitgliedstaaten offen delegitimiert und gleichzeitig oppositionelle Kräfte in Partnerländern als strategische Verbündete begreift, verliert an innerer Kohärenz. Dies ist weniger Spekulation über einzelne Maßnahmen als Ergebnis einer strukturellen Analyse der Strategie: Sie rückt die gemeinsame Deutung liberaler Ordnung, auf der das Bündnis beruht, ins Zentrum der Auseinandersetzung – und unterminiert genau diese Grundlage.


Insgesamt lässt sich festhalten: Die neue Nationale Sicherheitsstrategie verschiebt die amerikanische Europapolitik von einem Integrations- hin zu einem Fragmentierungsparadigma. Sie erklärt nicht äußere Bedrohungen zum Kernproblem Europas, sondern dessen eigene politische Architektur, mit besonderem Fokus auf supranationale Institutionen und Regulierungsregime. Diese Abkehr vom bisherigen Selbstverständnis des Westens ist der eigentliche strategische Bruch – und sie reicht weit über Fragen operativer Prioritätensetzung hinaus, weil sie die normative und institutionelle Grundordnung des transatlantischen Bündnisses selbst in Frage stellt.

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