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Wie Katherina Reiche mit unternehmerischer Rhetorik die Shrinkflation der CDU betreibt

  • Autorenbild: Richard Krauss
    Richard Krauss
  • 26. Juli
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 30. Juli

Ein Kommentar von Richard Krauss


Politik ist nicht Buchhaltung. Doch wer Katherina Reiche (CDU) zuhört, könnte genau diesen Irrtum für ihr Regierungscredo halten. Als Wirtschaftsministerin spricht sie selten von Gerechtigkeit, oft von Effizienz – nie von Vertrauen, aber stets von Verantwortung. Reiche denkt in Szenarien, nicht in Geschichten. Wer aber Politik von der Sprache des Managements her definiert, beendet sie, bevor sie beginnen kann.


Seit dem 6. Mai 2025 ist Katherina Reiche Bundeswirtschaftsministerin. Sie hat das Bild einer Ministerin geprägt, die nicht verwaltet, sondern bilanziert. Ihre Sprache ist unterkühlt, funktionalisiert, frei von Sentiment , voller Referenzen an Wettbewerbsfähigkeit und Reformdruck. Das mag sachlich erscheinen – doch in seiner Konsequenz entkernt es die Idee des Politischen. Hier spricht nicht das Gewissen einer Gesellschaft, sondern das Controlling ihrer Soll-Ist-Abweichungen.


Menschen erscheinen in Reiches Rhetorik nicht als politische Subjekte, sondern als Ressourcenträger – belastbar, planbar, verlängerbar. Arbeitszeit wird zur Variablen nationaler Wettbewerbsfähigkeit, nicht zur Frage sozialer Teilhabe. 2023 leisteten Beschäftigte in Deutschland rund 1,3 Milliarden Überstunden – davon mehr als die Hälfte unbezahlt. Ein stillschweigender Lohnverzicht von über 18 Milliarden Euro. Reiche nennt das notwendig. Man könnte auch sagen: Die Bilanz der Zumutbarkeit schreibt sich auf dem Rücken derer, die längst still geworden sind.


Auch in der Energiepolitik folgt Reiche dem Primat der Kalkulation. Erneuerbare Energien sind für sie kein zivilisatorischer Fortschritt, sondern ein Kostenfaktor mit Netzfolge. Der Umbau zur klimaneutralen Ökonomie wird so zur Bilanzkorrektur – nicht zur Zukunftsaufgabe. Die Sonne schickt keine Rechnung? Für Reiche ist das kein Argument, sondern ein Denkfehler.


Dabei inszeniert sie sich keineswegs als kalte Technokratin – ihre Politik ist vielmehr ein bewusster Affront gegen das, was man einst als Gemeinwohlorientierung bezeichnete. Ihre Haltung zu pluralen Familienmodellen ist kein Missverständnis, sondern Konsequenz. Wer Gleichstellung als Nebensache behandelt, handelt nicht neutral, sondern normativ. Die Demokratie, so scheint es, ist für Reiche ein Rahmen, kein Auftrag.


Ihr Führungsstil folgt dieser Logik: Führung als Verfügung, nicht als Verständigung. Klarheit ersetzt Dialog, Kontrolle ersetzt Vertrauen. Wo Repräsentation gefragt wäre, liefert sie Steuerung. Doch politische Führung in offenen Gesellschaften misst sich nicht an Linearität – sondern an der Fähigkeit, Komplexität nicht nur zu erkennen, sondern auch zuzulassen.


Dass Reiche auch strukturell bestens vernetzt ist, überrascht kaum. Zwischen 2015 und 2020 war sie Hauptgeschäftsführerin des Verbands kommunaler Unternehmen (VKU) und Aufsichtsrätin bei E.ON und Innogy. Heute reguliert sie genau jene Branche, deren Interessen sie gestern noch vertrat. Formal korrekt, demokratisch fragwürdig. Nähe zum Markt ist kein Makel – solange sie nicht zur Maxime wird.


Die gesellschaftliche Wirkung dieses Kurses ist tiefgreifend. Die politische Mitte – ohnehin zerrieben zwischen Prekarisierung, Preiswahrnehmung und Politikverdruss – erlebt Reiches ministeriellen Stil als Abwendung. Wer sich nicht mehr gesehen fühlt, sucht Alternativen – oder geht.


Studien zur Wählerwanderung zeigen: Unionswähler wandern teils zur AfD, teils zur Linken, oft ins Niemandsland der Nichtwahl. Dort, wo soziale Fragen als nachrangig erscheinen, wo Sprache technokratisch und Haltung kalt wird, entsteht ein Resonanzvakuum. Reiche spricht – doch sie erreicht nicht.


Besonders heikel: Ihre Linie steht im Widerspruch zu zentralen Passagen des CDU-Parteiprogramms. Dort ist von sozialem Zusammenhalt die Rede, von Familienvielfalt, von sozialer Marktwirtschaft als Identitätskern. Reiche ignoriert all das – und schafft damit nicht nur Konflikte, sondern kognitive Dissonanz im eigenen Lager.


Der Arbeitnehmerflügel der Union hat das längst erkannt. Die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) spricht offen von einer „Fehlbesetzung“. Christian Bäumler nennt Reiche einen „Fremdkörper“. Ihre Aussagen zur Lebensarbeitszeit seien nicht nur inhaltlich problematisch, sondern koalitionswidrig. Wer so regiert, demontiert nicht nur Programme – sondern Erwartungen.


Was daraus folgt, ist ein legitimatorisches Paradoxon: Eine Partei, die mit sozialem Gleichgewicht wirbt, aber betriebswirtschaftlich regiert, verliert ihr Zentrum – nicht nur geografisch, sondern moralisch. Reiche steht symbolisch für diese Verschiebung. Nicht weil sie Fehler macht, sondern weil sie Haltung zur Störung erklärt.


Was bleibt, ist das Bild einer Ministerin, die Politik auf Verrechenbarkeit reduziert – und darin exakt das verspielt, was sie stabilisieren müsste: Vertrauen. Katherina Reiche ist keine moderne Führungskraft – sie ist die perfekte Vertreterin einer politischen Ökonomie, die Menschen als Funktion, nicht als Wesen betrachtet.


Wer so rechnet, regiert präzise – aber ohne Bindung. Und wer Menschen zur Bilanzgröße macht, wird am Ende das sein, was er am wenigsten einkalkuliert hat: ein politisches Risiko.



Glossar

Arbeitszeit

Vertraglich geregelter Zeitraum, in dem Beschäftigte einer bezahlten Tätigkeit nachgehen. Im Text zentral durch die Diskussion um Überstunden und verlängerte Lebensarbeitszeiten.

 

Betriebswirtschaft

Disziplin zur Steuerung wirtschaftlicher Prozesse in Unternehmen. Im Kommentar als ideologische Grundlage von Reiches Politikstil thematisiert.

 

Bilanzierung

Technischer Begriff aus der Wirtschaft, der die Gegenüberstellung von Aufwand und Ertrag bezeichnet. Im Text als rhetorische Metapher für Reiches Regierungsstil verwendet.

 

CDA

Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft. Der Sozialflügel der CDU, der Reiche als wirtschaftsliberale Fehlbesetzung kritisiert.

 

Controlling

Instrument der betriebswirtschaftlichen Steuerung. Im Kommentar Sinnbild für Reiches Politikverständnis: regieren durch Kennzahlen.

 

Demobilisierung

Rückgang politischer Beteiligung. Im Text als Folge sozialer Entfremdung durch Reiches Politikstil beschrieben.

 

Demografischer Wandel

Veränderung der Bevölkerungsstruktur durch Alterung und niedrige Geburtenrate. Von Reiche zur Legitimation längerer Lebensarbeitszeiten verwendet.

 

Energiewirtschaft

Wirtschaftszweig der Strom- und Energieversorgung. Reiche war als VKU-Chefin und Aufsichtsrätin eng mit dieser Branche verbunden.

 

Effizienz

Ökonomisches Prinzip der Nutzenmaximierung mit minimalem Aufwand. Reiche erhebt Effizienz zum politischen Maßstab – mit sozialen Kollateralschäden.

 

Familienbilder

Vorstellungen darüber, wie Familie gesellschaftlich und politisch definiert wird. Reiche steht für ein konservatives, exklusives Familienverständnis.

 

Fremdkörper

Politische Bezeichnung für eine Person, deren Haltung nicht zur Linie der eigenen Partei passt. Wird auf Reiche innerhalb der CDU angewandt.

 

Gemeinwohl

Gesamtgesellschaftliches Wohl und überindividuelle Interessen. Im Text als politische Kategorie marginalisiert durch Reiches unternehmerisches Denken.

 

Gesellschaftsvertrag

Philosophisches Konzept, das staatliche Ordnung als Konsens der Regierten begreift. Im Text durch Reiches Managementpolitik unter Druck.

 

Koalitionsvertrag

Vertragliche Grundlage gemeinsamer Regierungspolitik. Reiche wird vorgeworfen, zentrale Vereinbarungen zu unterlaufen.

 

Leadership

Führungskompetenz im politischen Kontext. Reiche definiert Führung über Durchsetzung, nicht über Verständigung oder soziale Empathie.

 

Legitimität

Anerkennung politischer Herrschaft durch Bürger:innen. Schwindet, wenn politische Repräsentation als einseitig oder marktorientiert empfunden wird.

 

McKinseyisierung

Kritischer Begriff für die Ökonomisierung politischer Entscheidungen nach Maßgabe betriebswirtschaftlicher Beratung.

 

Ministerium

Politische Verwaltungsstruktur mit fachspezifischer Zuständigkeit. Reiche leitet das Bundesministerium für Wirtschaft.

 

Netzentgelte

Gebühren für die Nutzung der Strominfrastruktur. Reiche nennt diese als zentrales Argument gegen einen schnellen Umbau der Energiewirtschaft.

 

Nichtwahl

Akt des Wahlverzichts als politische Enttäuschungsreaktion. Im Kommentar als Symptom für den Vertrauensverlust in die demokratische Mitte analysiert.

 

Parteiprogramm

Grundsatzschrift einer Partei. Die CDU verpflichtet sich darin zur Sozialen Marktwirtschaft – Reiche regiert laut Kommentar dagegen.

 

Plurale Gesellschaft

Demokratische Realität sozialer und kultureller Vielfalt. Reiches Äußerungen stehen in Widerspruch zur Anerkennung dieser Realität.

 

Prekarität

Labile soziale oder ökonomische Lebenslagen. Im Text als Realität vieler Menschen, die durch Reiches Politik verschärft wird.

 

Repräsentation

Demokratisches Prinzip der politischen Vertretung. Reiche wird im Kommentar vorgeworfen, dieses Prinzip zugunsten von Marktinteressen zu entwerten.

 

Shrinkflation

Wirtschaftsbegriff für sinkende Leistung bei gleichem Preis. Im Kommentar übertragen auf den Arbeitsmarkt: mehr Leistung, weniger Wertschätzung.

 

Soziale Marktwirtschaft

Wirtschaftssystem, das Marktmechanismen mit sozialem Ausgleich verbindet. Im CDU-Programm zentral, durch Reiches Handeln unterlaufen.

 

Sozialverantwortung

Pflicht politischer Akteure zur Beachtung gesellschaftlicher Bedürfnisse. Im Kommentar als Defizit Reiches identifiziert.

 

Stakeholder

Interessensgruppen mit Einfluss auf politische oder wirtschaftliche Entscheidungen. Im Text als Korrektiv zu demokratischer Legitimation problematisiert.

 

Überstunden

Mehrarbeit über die reguläre Arbeitszeit hinaus. Im Text zentrales Thema zur Darstellung von Reiches Arbeitsmarktpolitik.

 

Vertrauen

Grundlage politischer Stabilität. Wird durch Reiches Stil und Prioritätensetzung laut Kommentar systematisch beschädigt.

 

Wählertäuschung

Diskrepanz zwischen Wahlversprechen und Regierungshandeln. Im Kommentar als Vorwurf gegenüber CDU und Reiche formuliert.

 

Wählerwanderung

Verschiebung politischer Präferenzen zwischen Parteien oder ins Nichtwählerlager. Im Text empirisch belegt als Folge von Entfremdung und Stilbruch.


Quellenverzeichnis


  • Statistisches Bundesamt (Destatis), "Arbeitszeit und Überstunden 2023", abgerufen am 25.07.2025.

  • Infratest dimap, Wählerwanderung zur Bundestagswahl 2021, ARD.

  • Friedrich-Ebert-Stiftung, Studie „Politische Mitte in der Krise?“, 2024.

  • Deutschlandfunk, Interview mit Christian Bäumler (CDA) vom 08.05.2025.

  • Handelsblatt, „Reiches Rückkehr in die Politik sorgt für Diskussionen“, 12.05.2025.

  • Tagesspiegel, „Reiche: Mehr und länger arbeiten“, 06.05.2025.

  • ntv.de, „CDA nennt Reiche eine Fehlbesetzung“, 07.05.2025.

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