Bürgergeld unter Beschuss: Wie CDU/CSU mit MAGA-Mechanismen eine mediale Vororchestrierung betreiben
- Richard Krauss

- 14. Juli
- 12 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 15. Juli
Kaum ein sozialpolitisches Thema wird derzeit so emotional und scharf geführt wie die Debatte um das Bürgergeld.
Während Millionen Menschen in Deutschland auf existenzsichernde Leistungen angewiesen sind, dominieren in Teilen von Politik und Öffentlichkeit Narrative von angeblicher Leistungsverweigerung, systemischem Missbrauch und einem aus dem Ruder laufenden Sozialstaat.
Vorneweg: die Union. Ihre Schlagworte reichen von „Fördern und Fordern“ bis zur Forderung nach harten Sanktionen für sogenannte Totalverweigerer – obwohl die Fakten eine andere Sprache sprechen.

Was ist dran an diesen zugespitzten Erzählungen? Welche Gruppen beziehen tatsächlich Bürgergeld, wie hoch sind die staatlichen Kosten – und wo entstehen strukturelle Ineffizienzen?
Wer profitiert vom Bürgergeld?
Rund 5,5 Millionen Menschen in Deutschland – etwa sieben Prozent der Bevölkerung – beziehen derzeit Bürgergeld. Die Gruppe ist sozial sehr heterogen:
Kinder und Jugendliche (35–38 %): Über ein Drittel der Leistungsbeziehenden ist minderjährig. Viele stammen aus Haushalten mit alleinerziehenden Elternteilen oder aus Familien, die in struktureller Armut leben.
Erwerbsfähige Erwachsene (58–60 %): Hierzu zählen Alleinstehende, Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen, Langzeitarbeitslose sowie Personen mit prekären Bildungs- und Berufsbiografien – darunter viele mit Migrationsgeschichte.
Seniorinnen und Senioren (2–5 %): Eine Minderheit im Bürgergeldsystem, da Altersbedürftige zumeist Leistungen aus der Grundsicherung im Alter erhalten.
Menschen mit Behinderungen und dauerhaft Erwerbsunfähige (5–10 %, Schätzung): Häufig handelt es sich um Betroffene mit sehr niedrigem Einkommen oder besonderen Belastungen, etwa durch Pflegeverantwortung.
Lohnaufstocker (ca. 15 %): Sie arbeiten – meist in Teilzeit oder im Niedriglohnsektor – können ihren Lebensunterhalt mit dem erzielten Einkommen aber nicht allein bestreiten. Dies ist gleichzeit auch eine Lohnsubventionierung durch den Staat.
Das Bild der „Nicht zur Arbeitsaufnahme Bereiten“
In der politischen Kommunikation wird suggeriert, ein erheblicher Teil der Empfänger entziehe sich der Arbeitsaufnahme oder dulde den Status der Bedürftigkeit. Die amtlichen Zahlen widersprechen dem deutlich:
Der Anteil derjenigen, die nachweislich dauerhaft nicht zur Arbeitsaufnahme bereit sind, liegt stabil bei lediglich 0,4 bis 1,3 Prozent.
Der Großteil der Sanktionen bezieht sich nicht auf Arbeitsverweigerung, sondern auf Meldeversäumnisse – etwa das Nichterscheinen zu Terminen.
Untersuchungen zeigen:
Selbst unter den rund neun Prozent der Betroffenen, die sich laut eigenen Angaben „nicht besonders aktiv“ an der Jobsuche beteiligen, fällt nur ein kleiner Teil durch eine völlige Verweigerungshaltung auf. Viel häufiger stehen belastende Lebenslagen wie Krankheit, familiäre Krisen oder langjährige Arbeitslosigkeit im Hintergrund.
Gleichwohl wird in der politischen Debatte eine kleine Minderheit dramatisch überhöht – ein rhetorisches Manöver, das Folgen hat.
Die orchestrierte Rhetorik und ihre Zielgruppen
Die Kommunikationsstrategie der Union folgt einem klaren Muster: emotionale Rahmung, moralisch aufgeladene Begrifflichkeiten, reduzierte Komplexität. Schlagworte wie „Leistung muss sich lohnen“ und „Neue Grundsicherung“ setzen den Ton.
Die politische Logik dahinter ist kalkuliert – und richtet sich an gezielte Adressatengruppen:
Konservative Stammwähler, die staatliche Strenge als Ausdruck von Gerechtigkeit verstehen.
Wähler der unteren Mittelschicht, bei denen das Gefühl dominiert, selbst zu wenig vom Staat zu bekommen, während „die da unten“ vermeintlich bedenkenlos Leistungen kassieren.
Rechtskonservative Milieus, die der Union Sichtbarkeit im Wettstreit mit der AfD sichern sollen. Indem Randphänomene systematisch in den Vordergrund gerückt werden, entsteht ein Bild des Sozialstaats, das mit der Realität kaum noch etwas gemein hat – dafür aber Affektpotenzial entfaltet.
Falsche Behauptungen: Fakten contra Mythos
Tatsächlich lässt sich eine Reihe der meistverbreiteten Thesen über das Bürgergeld empirisch nicht belegen:
Verweigerung von Arbeit ist ein Randphänomen.
Massiver Leistungsbetrug bleibt statistisch unterhalb der Wahrnehmungsschwelle – gesichert ist: Der weit überwiegende Teil der Bürgergeldbeziehenden erfüllt seine Mitwirkungs- und Nachweispflichten.
Die Vorstellung vom Bürgergeld als „Migrationsmagnet“ verschleiert, dass Bedarf in der Regel durch Flucht, strukturelle Arbeitslosigkeit oder familiäre Notlagen entsteht – und nicht planvoll kalkuliert.
Sanktionen haben laut wissenschaftlicher Evaluation geringe Wirkung auf die Integrationschancen, jedoch messbare negative Auswirkungen auf die soziale und psychische Stabilität der Betroffenen.
Der Abgleich von Botschaften und Belegen bleibt daher nötig – und zeigt, wie groß die Lücke geworden ist.
Verfassungsrechtliche Grenzen
Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Urteilen zum Arbeitslosengeld II und zum Bürgergeld unmissverständlich dargelegt:
Das Grundgesetz garantiert jedem Menschen das menschenwürdige Existenzminimum – und zwar bedingungslos. Sanktionen dürfen zwar verhängt werden, aber nur in klar definierten Fällen und unter strengen Auflagen. Der Gesetzgeber muss stets den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren.
Pauschale Kürzungen, wie sie in Teilen der politischen Debatte gefordert werden, stehen demnach auf verfassungsrechtlich wackeligem Boden – oder wären schlicht nicht zulässig, ohne die Verfassung selbst zu ändern. Eine solche Mehrheit existiert im Parlament derzeit nicht.
Verwaltungskosten und Doppelstrukturen: Die unsichtbaren Belastungen
Der eigentliche Kostenpunkt liegt an anderer Stelle: bei den Verwaltungsstrukturen – und deren oft kostspieliger Ineffizienz.
Die Verwaltungskosten im Zusammenhang mit dem Bürgergeld belaufen sich inzwischen auf über 7,7 Milliarden Euro im Jahr – das entspricht etwa 15 bis 20 Prozent der Gesamtausgaben.
Hinzu kommen geschätzte 1 bis 3 Milliarden Euro jährlich durch Doppelstrukturen: Bürgergeld, Kinderzuschlag, Wohngeld, Sozialhilfe – all diese Leistungen erfordern teils getrennte Anträge, Nachweise, Prüfprozesse. Unterschiedliche digitale Systeme, unzureichende Datenvernetzung und Mehrfachbearbeitungen sind gängige Praxis, nicht Ausnahme.
Dass dies hohe operative Folgekosten mit sich bringt, liegt auf der Hand – wird politisch aber vergleichsweise selten thematisiert.
Möglichkeiten der Kostenreduktion – und das Dilemma mit den Wohnkosten
Verwaltungsmodernisierung als Schlüssel
Reformen, die innerhalb des bestehenden Rechtsrahmens realisierbar sind, eröffnen substanzielle Einsparpotenziale – ohne Leistungskürzungen.
Digitalisierung: Einheitliche Verfahren, zentrale Antragssysteme, intelligente Schnittstellen könnten den Verwaltungsaufwand signifikant verringern.
One-Stop-Shops: Die Bündelung aller relevanten Sozialleistungen unter einem Dach würde das System vereinfachen und gleichzeitig für mehr Bürgerfreundlichkeit sorgen.
Pauschale Mehrbedarfe statt Einzelfallprüfungen: Auch Verzicht auf aufwändige Dokumentationen – etwa bei Alleinerziehenden oder bei medizinisch festgestelltem Mehrbedarf – könnte Kapazitäten freisetzen.
Verbesserte Kontrolle bei gleichzeitiger Entlastung
Datenabgleiche und standardisierte Prozesse ermöglichen eine zielgerichtete Missbrauchsprävention – ohne zusätzlichen bürokratischen Aufwand für Betroffene.
Qualifizierungsorientierte Förderung statt ungezielter Eingliederungsmaßnahmen kann Langzeitbedürftigkeit an der Wurzel bekämpfen und spart langfristig.
Dringlicher Handlungsbedarf bei Wohnkosten
Im Bereich der Unterkunftskosten liegt ein besonders widersprüchliches Bild vor. Die Mietobergrenzen zur Deckelung staatlicher Ausgaben sind zwar gesetzlich definiert, haben in der Praxis jedoch immer weniger mit der Marktrealität in deutschen Städten zu tun.
Die Mieten steigen schneller als die Behörden hinterherkommen: Selbst Wohnungen im unteren Preissegment liegen vielerorts oberhalb der Sätze, die offiziell als „angemessen“ gelten.
Menschen werden faktisch zur Wohnsitzaufgabe gezwungen, weil der Staat die vollen Mietkosten nicht mehr übernimmt – auch wenn es keinen Alternativwohnraum gibt.
Die Frage, die niemand beantworten will: Was dann?
Was passiert mit jenen, die sich keine Wohnung im Rahmen der Obergrenzen mehr leisten können – weil es schlicht keinen Wohnraum mehr gibt, der diesen Vorgaben entspricht?
Sollen sie „herausfallen“? In Wohngemeinschaften ziehen? Oder in letzter Konsequenz: auf der Straße leben?
Die zunehmende Wohnungsnot ist in deutschen Großstädten bereits Realität – und erinnert in ihrer sozialen Sprengkraft an Entwicklungen etwa in den USA, wo immer mehr Betroffene keine feste Unterkunft mehr haben und in Zeltstädten am Rand der Gesellschaft leben. Deutschland ist davon nicht weit entfernt.
Die politische Antwort auf wachsende Mietkosten kann daher nicht in der bloßen Anpassung von statistischen Obergrenzen liegen, sondern erfordert strukturelle Antworten: Investitionen in den sozialen Wohnungsbau, gezielte Wohnraumförderung statt Rückzug der öffentlichen Verantwortung und eine stärkere kommunale Steuerung des Mietwohnungssegments.
Manipulative Kommunikation
Die Debatte um das Bürgergeld offenbart nicht nur tiefe gesellschaftliche Spannungen, sondern auch eine bedenkliche Verschiebung der politischen Kommunikation.
Statt sich an der sozialen Wirklichkeit und empirischen Befunden zu orientieren, setzen Teile der politischen Akteure auf Emotionalisierung, vereinfachende Dramaturgie und die gezielte Stigmatisierung ganzer Bevölkerungsgruppen.
Die strategische Vororchestrierung der CDU/CSU, die sich rhetorisch zunehmend an populistische Formate wie MAGA annähert, verschiebt den Diskurs in Richtung einer Politik des Verdachts und der Ausgrenzung – mit potenziell folgenschweren Wirkungen auf demokratische Kultur und gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Der Sozialstaat wird zu einem symbolischen Kampfplatz um Moral, Zugehörigkeit und vermeintliche Gerechtigkeit gemacht, während die tatsächlichen Herausforderungen – wie strukturelle Armut, ein dysfunktionaler Wohnungsmarkt, wachsende soziale Ungleichheit und ein aufwendiges Verwaltungssystem – weitgehend unbearbeitet bleiben.
Wer den Sozialstaat zukunftsfähig gestalten will, braucht keine Lautstärke, sondern rechtsstaatliche Klarheit, soziale Verantwortung und politisch redliche Kommunikation.
Nur so lässt sich der Anspruch auf einen funktionierenden und menschenwürdigen Sozialstaat bewahren – jenseits populistischer Reflexe und ideologischer Selbstinszenierung.
Ob dies in Einklang mit dem Christlichen Leitbild im Parteinamen der CDU/CSU zu bringen ist, darf kritisch hinterfragt werden.
MAGA-Mechanismen im Bürgergeld-Diskurs: Eine gefährliche Verschiebung
Die politische Auseinandersetzung um das Bürgergeld hat sich in den vergangenen Monaten zunehmend von der sozialen Realität entfernt – und sich stattdessen rhetorisch in ein gefährliches Fahrwasser begeben.
Was sich in Teilen der Kommunikation, insbesondere durch Vertreterinnen und Vertreter der CDU/CSU, beobachten lässt, trägt Züge dessen, was international unter dem Begriff „MAGA-Mechanismen“ bekannt geworden ist: eine Strategie der Polarisierung, der Emotionalisierung und der systematischen Vereinfachung mit dem Ziel, gesellschaftliche Fronten zu schärfen und politische Mobilisierung durch Empörung zu erzeugen.
Die Parallele ist kein Zufall. In der US-amerikanischen Politik wurde mit „Make America Great Again“ ein Erzählmuster etabliert, das nicht auf differenzierte Lösungsansätze, sondern auf Identitätsstiftung durch Abgrenzung setzt: hier die „leistenden Patrioten“, dort die „faulen Mitesser“ des Systems; hier das produktive Volk, dort die abgehobene Elite oder der angeblich betrügerische Konkurrent.
In Deutschland ist der Sozialstaat zwar ungleich stärker verankert – doch die Rhetorik, mit der aktuell über das Bürgergeld gesprochen wird, lässt eine bedenkliche Parallele erkennen.
Wenn CDU und CSU Begriffspaare wie „Fördern und Fordern“ oder „Leistung muss sich lohnen“ zum Leitmotiv erklären, greifen sie auf moralisch aufgeladene Deutungsmuster zurück, die scheinbar einfache Antworten auf komplexe Lagen liefern.
Die empirischen Realitäten – etwa dass nur 0,4 bis 1,3 Prozent der Bürgergeldempfänger tatsächlich nicht zur Arbeitsaufnahme bereit sind – verschwinden hinter einem symbolischen Bühnenbild des Missbrauchs, der Leistungsverweigerung und einer „Systemkrise“, die es in dieser Form nicht gibt.
Diese orchestrierte Rhetorik richtet sich gezielt an berechenbare Adressatengruppen: an konservative Stammwähler, denen das Narrativ der staatlichen Kontrolle Sicherheit vermittelt; an Mittelschichtsangehörige, die sich durch hohe Steuern belastet, aber zu wenig gesehen fühlen; und nicht zuletzt an politisch Enttäuschte oder Verunsicherte am rechten Rand, die für einfache Schuldzuschreibungen besonders empfänglich sind.
Das Ergebnis ist keine notwendige Debatte über Gerechtigkeit oder Reformbedarf, sondern eine Debattenverengung – hin zu pauschaler Verdächtigung, gesellschaftlicher Abgrenzung und moralischer Eskalation.
Besonders fatal wird diese Entwicklung, wenn strukturelle Ursachen für Probleme im System – etwa erhebliche Verwaltungskosten, chronische Doppelstrukturen oder ein überforderter Wohnungsmarkt – aus dem Sichtfeld verschwinden.
Statt Verwaltungsmodernisierung oder bezahlbarem Wohnraum zu diskutieren, dreht sich der Diskurs um Sanktionsschärfe und angebliche Schlupflöcher – obwohl die eigentlichen Kostentreiber ganz woanders liegen.
Die Diskussion wird nicht sachorientiert geführt, sondern emotional aufgeladen – ein Kernmerkmal populistischer Politkonstruktionen, wie sie weltweit an Bedeutung gewinnen.
Gefährlich ist diese Entwicklung nicht nur, weil sie die Realität verzerrt, sondern weil sie Vertrauen zerstört. Wer systematisch ein Bild zeichnet, in dem staatliche Hilfen vor allem als Einladung zum Missbrauch erscheinen, beschädigt nicht nur den Sozialstaat, sondern auch den gesellschaftlichen Grundkonsens, auf dem er ruht.
Die Folge: Wachsendes Misstrauen gegenüber Institutionen, die schleichende Legitimitätskrise des demokratischen Staates – und ein öffentlicher Raum, der anfälliger wird für autoritäre Erzählungen.
MAGA-Mechanismen im deutschen Sozialdiskurs sind kein plumper Import amerikanischer Radikalrhetorik.
Sie sind vielmehr Ausdruck einer verführerischen Versuchung: komplexe soziale Probleme emotional so aufzuladen, dass sie ihre demokratische Verhandelbarkeit verlieren.
Wer deshalb glaubt, durch symbolische Härte an Profil und Zustimmung zu gewinnen, riskiert mehr als politische Glaubwürdigkeit. Er gefährdet den sozialen Frieden – und das Vertrauen in eine Demokratie, die für alle da sein muss, nicht nur für die Lautesten
Anhang:
Was sind MAGA-Mechanismen?
Das Konzept „Make America Great Again“ (MAGA) ist geprägt von populistischen Kommunikationsmustern, die gezielt gesellschaftliche Spaltungen vertiefen, Minderheiten stigmatisieren und das Vertrauen in demokratische Institutionen erschüttern.
Kennzeichnend sind polarisierende Erzählungen, Emotionalisierung gegen „die Anderen“, pauschale Vorwürfe gegen Medien oder Verwaltung und die zugespitzte Inszenierung eines gesellschaftlichen Kulturkampfes.
In der Bürgergelddebatte zeigen sich folgende Parallelen zu typischen MAGA-Mechanismen – insbesondere in der politischen Strategie der CDU/CSU:
1. Polarisierung durch Schuldzuweisung
Die Kommunikation richtet sich darauf, Bürgergeldempfänger als weitgehend „nicht zur Arbeitsaufnahme bereit“ darzustellen und sie implizit für Systemunsicherheiten verantwortlich zu machen. Die tatsächliche Faktenlage belegt jedoch einen verschwindend geringen Anteil dieser Gruppe.
Durch die rhetorische Überhöhung von Einzelfällen werden Gegensätze zwischen „leistender Mehrheit“ und „abkoppelnden Empfängern“ zugespitzt.
2. Emotionalisierung und Dramatisierung
Wiederkehrende Schlagworte wie „Fördern und Fordern“ oder Berichte über „Verweigererkultur“ inszenieren das Problem nicht als Randerscheinung, sondern als institutionelle Krise.
Fakten zu Empfängerstruktur und Sanktionspraxis gehen im emotionalen Alarmismus oft unter. Empirische Korrekturen dringen kaum durch.
3. Diskurslenkung durch vereinfachte Narrative
Zahlen und Zusammenhänge werden zugunsten einprägsamer und identitätsstiftender Narrative verdrängt. Begriffe wie „Leistung muss sich lohnen“ suggerieren, dass der Sozialstaat gefährdet sei – obwohl die Verfassungsgerichtsbarkeit klare Grenzen zieht.
Die Lebenslagen von Kindern, Alleinerziehenden, Niedriglohnbeschäftigten oder Menschen mit Handicap bleiben – trotz ihrer statistischen Relevanz – im Schatten der politischen Dramaturgie.
4. Schwächung von Institutionen
Obwohl Verwaltungskosten und Doppelstrukturen nachweislich Hauptkostentreiber sind, wird der öffentliche Diskurs gezielt auf individuelle Fehlverhalten verschoben.
In Teilen werden staatliche Institutionen und Sozialbehörden zum Sündenbock politischer Handlungsunfähigkeit erklärt – eine Methode, die das Vertrauen in demokratische Administration untergräbt.
Gefährdungspotenziale für Demokratie und Gesellschaft
Spaltung statt Zusammenhalt: Die ständige Betonung gesellschaftlicher „Leistungsträger“ gegen „Leistungsempfänger“ spaltet die Gesellschaft und fördert Ressentiments gegenüber den Schwächsten.
Legitimitätsverlust demokratischer Prozesse: Werden Institutionen wiederholt als ineffizient, „verzerrend“ oder bewusst ungerecht dargestellt, verliert das System an Akzeptanz – mit gefährlichen Konsequenzen für den Rechtsstaat.
Verlust der Debattenkultur: Die ständige Reduktion komplexer Zusammenhänge auf emotionale Gegensätze erschwert sachliche Sozialreformen und begünstigt politische Radikalisierung.
Klar benannte Parallelen
Emotionalisierte Einzelfälle werden zur Systemkritik hochstilisiert.
Die Sprache verschiebt den Diskurs nach rechts und öffnet Anschlussmöglichkeiten für populistische Erzählmuster.
Strukturelle Probleme – Verwaltung, Wohnungsmangel, Kinderarmut – bleiben in der symbolischen Inszenierung politischer Handhabe untergeordnet.
Im Sinne der Transparenz hier eine gegliederte Übersicht zu den zentralen Informationsquellen, aus denen die inhaltlichen Aussagen des Haupttextes stammen. Die einzelnen Stichpunkte verweisen auf offizielle Stellen, wissenschaftliche Analysen, Statistiken sowie maßgebliche Urteile und Expertisen.
1. Statistische Kennzahlen und Empfängerdaten
Bundesagentur für Arbeit: Regelmäßige Berichte und Statistiken zu Zahl der Bürgergeld-Empfänger, deren sozioökonomischer Struktur, dem Anteil von Kindern, Jugendlichen, Alleinerziehenden, Menschen mit Migrationshintergrund und Aufstockern.
Statistisches Bundesamt (Destatis): Übersichtswerte zu Sozialleistungen, Bevölkerung nach Altersgruppen und Migrationsstatus.
2. Verwaltungskosten, Doppelstrukturen und Sozialbudget
Bundeshaushalt und Finanzpläne: Angaben zu den Gesamtmitteln für Bürgergeld sowie die nachrichtlich ausgewiesenen Verwaltungskosten.
Berichte des Bundesrechnungshofes: Analysen zu Effizienz und Kosten der Sozialverwaltungen, insbesondere zu Mehrkosten durch Doppelstrukturen.
Nationaler Normenkontrollrat: Studien und jährliche Berichte zur Bürokratiebelastung im Sozialbereich.
3. Verfassungsrecht und Gerichtsurteile
Bundesverfassungsgerichtsurteile (2010, 2019, 2024): Entscheidungen zu Hartz IV/Bürgergeld, Existenzminimum, Sanktionen, Kinderbedarf und Angemessenheit.
Zusammenfassungen und Auswertungen juristischer Fachliteratur (z.B. Nomos-Kommentar zum SGB II, sozialrechtliche Fachpublikationen).
4. Politische Programmatik und Kommunikationsstrategie
CDU/CSU-Parteiprogramme, Pressekonferenzen und Reden: Aussagen zu “Fördern und Fordern”, Systemwechsel, Vororchestrierung.
Medienauswertungen und Analysen von Politikbeobachtern (z.B. Tagesschau, Süddeutsche Zeitung, ZEIT, Deutschlandfunk): Bewertung der Kommunikationslinien, strategischer Agenda-Setting-Mechanismen und Einfluss populistischer Narrative.
Studien von Sozialforschungsinstituten (z.B. IAB, WZB): Soziologische Bewertungen zu den Wirkungen politischer Rhetorik rund um das Bürgergeld.
5. Sanktionen, Mitwirkung und Arbeitsbereitschaft
Bundesagentur für Arbeit: Sanktionsstatistiken, Zahl und Art der Pflichtverletzungen, Anteil derjenigen, die nicht zur Arbeitsaufnahme bereit sind.
Publikationen und Gutachten unabhängiger Forschungsstellen: Analysen zu Ursachen, Wirkungen und tatsächlicher Relevanz von Sanktionsfällen im Bürgergeldsystem.
6. Wohnkosten und Marktanalysen
Deutscher Mieterbund, kommunale Wohnungsstatistiken, Studien zur Wohnraumsituation: Werte zu realen Mietkosten, Marktentwicklungen und Unterkunftskosten in Relation zu Bürgergeld-Sätzen.
Berichte über Wohnungsmangel und „angemessene“ Unterkunftskosten (z.B. Pestel-Institut, DIW, Statista).
7. Internationale Vergleiche und MAGA-Kommunikationsmuster
Politikwissenschaftliche Analysen populistischer Kommunikationsstrategien (u.a. „MAGA“-Mechanismen): Veröffentlichungen aus Wissenschaft und Qualitätsmedien zu Diskursverschiebungen im rechten Spektrum.
Vergleichsstudien zur Wirkung von Vororchestrierung und Populismus (bspw. durch Denkfabriken oder universitäre Forschungsstellen).
Glossar
Alleinerziehende
Elternteil, der ohne Partner*in mit Kindern zusammenlebt und die Erziehung sowie den Lebensunterhalt (überwiegend) alleine verantwortet.
Angemessene Kosten der Unterkunft
Bezeichnung für die Miet- und Heizkosten, die im Rahmen des Bürgergeldes in einer örtlich üblichen, als bezahlbar geltenden Höhe übernommen werden.
Aufstocker
Person, die trotz Erwerbstätigkeit von ihrem Einkommen nicht leben kann und deshalb ergänzend Bürgergeld erhält.
Bedarfsgemeinschaft
Haushalt, in dem mehrere Personen gemeinsam wirtschaften und gemeinsam (nach dem Sozialgesetzbuch) als Leistungsberechtigte gelten, z. B. Eltern mit Kindern, Lebenspartner*innen.
Bürgergeld
Aktuelle Form der Grundsicherung in Deutschland für erwerbsfähige Menschen, die keinen ausreichenden Lebensunterhalt aus eigener Kraft erwirtschaften können; Nachfolger von „Hartz IV“.
Bundesagentur für Arbeit
Staatliche Institution, die für Arbeitsvermittlung, Arbeitsmarktstatistik und die Auszahlung von Leistungen wie Bürgergeld zuständig ist.
CDU/CSU
Christlich Demokratische Union und Christlich-Soziale Union; große konservative Parteien in Deutschland, stellen oft gemeinsam die sogenannte „Union“ im Bundestag.
Doppelstrukturen
Ineffiziente Überschneidungen von Aufgaben und Zuständigkeiten zwischen verschiedenen Behörden oder Ebenen der Verwaltung, die zu erhöhtem bürokratischem Aufwand führen.
Existenzminimum
Der Lebensstandard, der jedem Menschen nach deutschem Grundgesetz garantiert werden muss (z. B. Nahrung, Wohnung, Kleidung, Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben).
Fördern und Fordern
Prinzip der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik: Staatliche Unterstützung gibt es für Bedürftige, zugleich werden Eigeninitiative und Mitwirkungspflichten zur Eingliederung in Arbeit verlangt.
Grundgesetz
Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, regelt die grundlegenden Rechte und Pflichten der Bürger*innen sowie die staatliche Ordnung.
Hartz IV
Ehemalige Bezeichnung der Grundsicherungsleistungen, Vorgänger des Bürgergelds.
Jobcenter
Gemeinsame Einrichtung von Bundesagentur für Arbeit und Kommunen, welche Bürgergeld (früher Hartz IV) auszahlt und Maßnahmen zur Arbeitsmarktintegration organisiert.
Lohnaufstocker
Andere Bezeichnung für „Aufstocker“: Erwerbstätige, die zusätzlich Bürgergeld benötigen, weil ihr Einkommen nicht ausreicht.
MAGA
Abkürzung für „Make America Great Again“ – Slogan und politische Strategie von Donald Trump, steht international für populistische Kommunikationsmuster mit starker Polarisierung und Emotionalisierung.
Mehrbedarf
Zusätzliche finanzielle Leistung im Bürgergeld, z. B. für Alleinerziehende oder Menschen mit Behinderung, wenn der Regelbedarf nicht ausreicht.
Migration/Migrationshintergrund
Beschreibt Menschen, die selbst oder deren Eltern nach Deutschland eingewandert sind. In Sozialstatistiken häufig als gesonderte Gruppe betrachtet.
Regelsatz
Monatlich festgelegter Geldbetrag im Bürgergeld, der das Existenzminimum sichern soll – unabhängig von Miet- und Heizkosten.
Sanktion
Kürzung oder Streichung von Sozialleistungen, wenn z. B. zumutbare Arbeit abgelehnt oder Mitwirkungspflichten nicht eingehalten werden.
Sozialstaat
Staatsform, in der soziale Sicherung (wie Arbeitslosengeld, Bürgergeld, Krankenversicherung) rechtlich garantiert ist, um Armut und Benachteiligung vorzubeugen.
Statistisches Bundesamt (Destatis)
Zentrale Behörde zur Erhebung, Sammlung und Veröffentlichung von amtlichen Statistiken in Deutschland.
Verwaltungskosten
Für Personal, Organisation und IT aufgewendete Mittel, um staatliche Leistungen wie das Bürgergeld auszuzahlen und zu überprüfen.
Vororchestrierung
Geplante, strategische Steuerung und Rahmung öffentlicher Debatten durch Politik oder Verbände, meist noch bevor konkrete Gesetzesvorhaben formuliert werden.
Zumutbare Arbeit
Arbeit, die als für eine Person mit Bürgergeld-Bezug verpflichtend gilt und abgelehnt werden kann – mit Auswirkungen auf die Leistungen – nur unter bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen.



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