Die Relativierung des Leids, wenn andere dein Leid bewerten
- Richard Krauss

- 14. Juli
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 10. Aug.
Die Relativierung des Leids anderer begegnet uns oft: Sätze wie „Anderen geht es schlechter“ oder „Das ist doch kein richtiges Problem“ lassen Betroffene mit ihren Gefühlen allein. Solche Reaktionen entlasten kurzfristig, führen aber dazu, dass Menschen sich nicht ernst genommen fühlen.

Abwehrmechanismen verstehen
Psychologisch betrachtet ist die Relativierung von Leid ein Abwehrmechanismus. Viele Menschen reagieren auf das Leid anderer mit Verdrängung oder Rationalisierung, weil sie sich überfordert oder hilflos fühlen. Wer sagt „So schlimm ist das doch gar nicht“, schützt sich vor eigenen unangenehmen Gefühlen. Projektion – das Übertragen eigener Unsicherheiten auf andere – und Reaktionsbildung, etwa übertriebene Fürsorglichkeit, sind weitere Strategien, um Distanz zu schaffen und sich selbst zu stabilisieren. Diese Muster können Beziehungen oberflächlich machen und die emotionale Entwicklung hemmen.
Prägung durch Familie und Gesellschaft
Solche Abwehrmechanismen werden oft schon in der Kindheit gelernt. Kinder, deren Gefühle nicht anerkannt werden, übernehmen diese Haltung unbewusst. In vielen Familien gilt: Schwäche wird nicht gezeigt, Leid bleibt unausgesprochen. Das führt zu Unsicherheit im Umgang mit eigenen Emotionen und kann Distanz in Beziehungen schaffen. Auch gesellschaftlich werden Themen wie Trauer oder Überforderung häufig tabuisiert. Wer länger trauert oder starke Gefühle zeigt, hört Sätze wie „Das Leben geht weiter“. Besonders in leistungsorientierten Milieus wird psychisches Leid schnell als Schwäche betrachtet.
Relativierung in Partnerschaften
In Beziehungen kann die Relativierung von Leid echte Nähe verhindern. Wenn jemand nach einer Fehlgeburt hört: „Wir können es ja nochmal versuchen, andere Paare haben Schlimmeres erlebt“, bleibt der Schmerz unbearbeitet. Auch bei Trennungen neigen viele dazu, die Bedeutung der Beziehung herunterzuspielen oder sich sofort abzulenken, statt die Trauer zuzulassen. Das führt langfristig zu innerer Leere oder Schwierigkeiten in neuen Partnerschaften.
Relativierung im medizinischen und gesellschaftlichen Kontext
Menschen mit chronischen Schmerzen berichten häufig, dass ihr Leiden relativiert wird: „Sie sehen doch gar nicht krank aus.“ Solche Sätze verstärken das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, und können die Gefahr von Chronifizierung und psychischen Folgeerkrankungen erhöhen. Auch im politischen Diskurs wird Leid oft relativiert, etwa wenn das Schicksal Geflüchteter mit Hinweisen auf die Belastung des Sozialsystems abgewertet wird. In leistungsorientierten Gesellschaften gilt: Wer nicht „funktioniert“, wird schnell stigmatisiert.
Gesellschaftliche Dimensionen
Die Relativierung von Leid ist tief in gesellschaftlichen Strukturen verankert. Vergleiche, Objektivierung durch Leistungsindikatoren und die Abwertung individueller Erfahrungen sind an der Tagesordnung. Politische Akteure nutzen Vergleiche von Leid, um Entscheidungen zu legitimieren oder Kritik abzuwehren. Das führt dazu, dass individuelles oder kollektives Leid nicht als eigenständiges Problem anerkannt wird.
Impuls:
Wenn du das Gefühl hast, alles lastet auf dir und keiner sieht, wie schwer es ist, musst du nicht alles alleine tragen.
Es gibt Momente, in denen du gehalten wirst – durch einen Freund, einen einfühlsamen Satz, einen Zufall, der dich auffängt, wenn du fällst. Unterstützung anzunehmen ist in Ordnung, scheinbare Schwäche macht dich nicht weniger wert.
Viele finden in solchen Erfahrungen die Hoffnung, dass mehr trägt als das Sichtbare – eine Kraft, die dich nicht fallen lässt. Es ist Gott.
Ps 91 „Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen. Sie werden dich auf Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.“
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Anhang:
Relativierung von Leid ist als Abwehrmechanismus empirisch belegt („Minimierung“, „comparative suffering“).
Kompensationsstrategien wie Perfektionismus, übermäßige Hilfsbereitschaft oder Abwertung anderer sind Risikofaktoren für Erschöpfung und soziale Isolation (psychologische Studien).
Psychoanalytische Theorien (Freud, Klein) beschreiben Relativierung und
Kompensation als zentrale unbewusste Abwehrmechanismen gegen Angst und Scham.
In politischen und gesellschaftlichen Kontexten wird Leid häufig relativiert, um Verantwortung zu verschieben oder Machtverhältnisse zu stabilisieren (Forschung zu Diskriminierung und sozialer Ungleichheit).
Sozialisationsprozesse in Familie und Schule prägen den Umgang mit Leid nachhaltig und können die Entwicklung von Empathie und Anerkennung behindern (entwicklungspsychologische Studien).
Quellen:
Neumann, R. (2019). Psychologie der Empathie.
Gilbert, P. (2010).
Compassion Focused Therapy.
Breines, J. G., & Chen, S. (2012).
Self-Compassion Increases Self-Improvement Motivation.
Kuster, F., Orth, U., & Meier, L. L. (2013).
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Trauer und Melancholie.Klein, M. (1946).
Notes on Some Schizoid Mechanisms.Radebold, H. (2009).
Unbewusste Weitergabe von Trauma in Familien.
UNHCR-Berichte zur Flüchtlingspolitik (2022).Ahmed, S. (2012).
On Being Included: Racism and Diversity in Institutional Life.Honneth, A. (2011).
Das Recht der Freiheit.Ehrenberg, A. (1998).
Das erschöpfte Selbst.Bourdieu, P. (2012).
Die symbolische Gewalt.Fonagy, P., Target, M. (2003). Psychoanalyse und Entwicklung.



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