Jenseits der Zahlen: Die menschliche Seite der Suizidprävention
- Richard Krauss

- 10. Sept.
- 3 Min. Lesezeit
Die Statistik erfasst 10.304 Suizide in Deutschland für das Jahr 2023. Alle 51 Minuten stirbt ein Mensch durch Suizid. Die Zahl der Suizide übersteigt die Summe der Todesfälle durch Verkehrsunfälle, Mord, Totschlag, illegale Drogen und AIDS. Jeder hundertste Todesfall in Deutschland ist ein Suizid.
Diese Zahlen stehen im Kontext einer Gesellschaft, die das Thema oft meidet. Der Welttag der Suizidprävention am heutigen 10. September dient als Mahnung. Er fordert eine Veränderung des kulturellen Narrativs. Scham und Schweigen sollen durch Hoffnung, Hilfe und Gemeinschaft ersetzt werden.

Das Tabu um den Suizid hat historische Wurzeln. Das Christentum bewertete die Selbsttötung über Jahrhunderte als Sünde. Sogenannten „Selbstmördern“ wurde eine kirchliche Bestattung verweigert. Ihre Leichname wurden in „ungeweihter Erde“ beerdigt. Dies verstärkte die Isolation der Hinterbliebenen.
Die Psychiatrie wandelte später die moralische Verurteilung in eine Pathologisierung. Der Suizid galt als Symptom einer psychischen Störung. Dies grenzte Betroffene von der gesellschaftlichen Normalität ab. Heute existiert ein Paradoxon. Der Suizid ist in Deutschland seit über 140 Jahren straffrei.
Das Bundesverfassungsgericht bekräftigte 2020 das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben. Die gesellschaftliche Realität bleibt jedoch von alten Normen geprägt. Diese Diskrepanz hat Konsequenzen. Sie hindert Menschen in Not daran, Hilfe zu suchen. Sie stürzt Angehörige in eine besondere Form der Trauer, die von Schuldgefühlen und der Unsicherheit des Umfelds begleitet wird.
Inmitten dieses Schweigens signalisieren Sätze wie „Ich mag nicht mehr“ einen Hilferuf. Solche Äußerungen müssen ernst genommen werden, so der Psychiater Dr. Oliver Dodt. Sie können Vorboten einer Krise sein.
Diese zeigt sich auch in Verhaltensänderungen wie sozialem Rückzug oder der Vernachlässigung des Äußeren. Die Reaktion des Umfelds ist entscheidend. Es braucht die Bereitschaft, zuzuhören – aktiv und ohne zu werten. Der wirksamste Schritt ist die direkte Frage: „Denkst du daran, dir das Leben zu nehmen?“.
Experten widerlegen den Mythos, man könne eine Person dadurch auf die Idee bringen. Für Betroffene ist die Frage eine Entlastung. Sie signalisiert, dass ihr Leid wahrgenommen wird.
Bei einer Bejahung ist die eigene Rolle klar. Man ist eine Brücke zur professionellen Hilfe. Hinter 90 Prozent der Suizidgedanken steht eine behandelbare psychische Erkrankung, meist eine Depression. Die Aufgabe ist es, diese Brücke zu bauen: durch das Angebot, eine Beratungsstelle anzurufen, die Person in eine Klinik zu begleiten oder den Notruf 112 zu wählen.
Das Programm „Mental Health First Aid“ (MHFA) soll Handlungskompetenz in der Gesellschaft verankern.
Es wird vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim koordiniert. Ziel ist es, Erste Hilfe für die Seele selbstverständlich zu machen.
Laien erlernen in Kursen Grundlagenwissen über psychische Erkrankungen und konkrete Maßnahmen für Krisen. Es geht darum, Sicherheit zu geben und die Zeit bis zum Eintreffen professioneller Hilfe zu überbrücken.
Die Statistik zeigt, wo Prävention ansetzen muss. Die Suizidzahlen stagnieren seit zwei Jahrzehnten auf einem Niveau von 9.000 bis 10.000 Fällen pro Jahr. Dies deutet auf die Grenzen bisheriger Strategien hin. Die Bundesregierung strebt mit der Nationalen Suizidpräventionsstrategie neue Ansätze an.
Die Zahlen zeigen eine Asymmetrie. Fast drei von vier Suiziden, 7.478 im Jahr 2023, werden von Männern begangen. Ein traditionelles Männlichkeitsbild verhindert oft das Suchen von Hilfe.
Zwei Altersgruppen sind besonders betroffen. Für junge Menschen zwischen 10 und 25 Jahren ist Suizid die häufigste Todesursache. Bei hochbetagten Menschen steigen die Suizidraten an, angetrieben von Einsamkeit und chronischen Schmerzen.
Niemand muss mit diesen Krisen allein sein. Ein Netz an Hilfsangeboten existiert. Die TelefonSeelsorge bietet unter 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222 rund um die Uhr Anonymität und ein offenes Ohr. In Bayern sichert das Netzwerk der Krisendienste unter
0800 655 3000 eine flächendeckende Soforthilfe.
Für junge Menschen unter 25 Jahren hat sich die Online-Mailberatung von [U25] Deutschland bewährt. Hier beraten geschulte, gleichaltrige Peers anonym. Regionale Anlaufstellen wie die Fachstelle Suizidberatung in Würzburg ergänzen diese Strukturen.
Suizid ist meist die Folge einer behandelbaren Krankheit oder einer überwindbaren Krise. Prävention ist möglich.
Sie beginnt mit Aufmerksamkeit, dem Mut, das Schweigen zu brechen, und dem Wissen um Hilfen. Organisationen wie „Freunde fürs Leben e.V.“ leisten Aufklärungsarbeit. Indem wir uns anschließen, verändern wir das gesellschaftliche Narrativ.
Wir ersetzen das Tabu durch eine Kultur des Hinsehens und der Solidarität. Wir werden zu einem Netz, das Menschen in Krisen auffängt.
Quellenverzeichnis
https://www.caritas.de/hilfeundberatung/onlineberatung/u25/start
https://www.deutschlandfunkkultur.de/suizide-in-der-ddr-100.html
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https://blaupause-gesundheit.de/mitmachen/blaupause-wuerzburg/lokale-anlaufstellen/
https://www.naspro.de/dl/Suizidpraevention-Deutschland-2021.pdf
https://www.suizidpraevention.de/daten-und-fakten/suizidstatistiken-1
https://www.religionen-entdecken.de/lexikon/s/selbsttoetung-in-der-gesellschaft
https://www.telefonseelsorge-wuerzburg.de/welt-suizid-praeventionstag-am-10-september-2024/
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https://www.bundesgerichtshof.de/DE/Bibliothek/GesMat/WP18/S/Selbsttoetung.html
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https://www.di-uni.de/zertifikatskurse/mhfa-ersthelfer-kurse-fuer-psychische-gesundheit
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https://www.ptk-bayern.de/ptk/web.nsf/id/li_krisendienste_bayern.html
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https://www.who.int/southeastasia/news/detail/10-09-2024-world-suicide-prevention-day
https://www.tiefgeliebt.org/ (Seelsorge für queere Menschen)
https://www.suizidpraevention-berlin.de/en/world-suicide-prevention-day-2025/
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https://www.diakonie-pfalz.de/fileadmin/user_upload/MHFA_Ersthelfer_Infos.pdf



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