Im Gespräch mit - Hermann Hesse
- Richard Krauss
- 2. Juli
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 2. Juli
Interview zum 148 Geburtstag - 2. Juli 2025
Hermann Hesse wurde 1877 im Schwarzwald geboren und zählt bis heute zu den wichtigsten Stimmen der deutschsprachigen Literatur. Sein Lebensweg war geprägt von Brüchen, Selbstsuche und dem ständigen Ringen um geistige Freiheit.
Nach einer Jugend voller Zweifel und Widerstand gegen gesellschaftliche Erwartungen entschied er sich für ein Leben als Schriftsteller und Grenzgänger zwischen Kulturen.
Hesse lebte ab 1912 in der Schweiz, wurde 1924 Staatsbürger und entwickelte sich zu einem der meistgelesenen Autoren des 20. Jahrhunderts. Werke wie Siddhartha, Der Steppenwolf und Das Glasperlenspiel spiegeln die großen Fragen nach Identität, Sinn und der Balance zwischen Individuum und Gesellschaft. Für sein literarisches Schaffen, das bis heute weltweit inspiriert, erhielt er 1946 den Nobelpreis für Literatur.
Hesses Bücher sind geprägt von der Überzeugung, dass jede Krise auch eine Einladung zur Veränderung ist und dass Humanität und Selbstprüfung die Grundlagen einer offenen Gesellschaft bilden.
Herr Hesse, herzlich willkommen und Glückwunsch zu Ihrem heutigen 148. Geburtstag.
Ihr Werk gilt als Einladung zum Nachdenken, nicht als Dogma. Die Welt ist heute von Umbrüchen geprägt: Migration, demografische Veränderungen, politische Polarisierung, digitale Beschleunigung. Viele empfinden Unsicherheit, manche sogar Angst.
Wie sehen Sie diese Zeit – nicht aus der Distanz, sondern mit der philosophischen Tiefe, die Ihr Werk auszeichnet?
Hesse:
Herzlichend Dank für ihre heutige Einladung. Ich freue mich nach so langer Zeit mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Zu ihrer Frage.
Wandel ist das Urgesetz des Lebens, und dennoch bleibt die Angst vor ihm eine der tiefsten und beständigsten menschlichen Erfahrungen. Was wir heute erleben, ist keine bloße Sequenz äußerer Ereignisse, sondern eine tektonische Verschiebung in den Grundfesten unserer Gesellschaften und unseres Selbstverständnisses.
Die vertrauten Koordinaten von Herkunft, Zugehörigkeit und Identität geraten ins Schwanken. Migration, demografischer Wandel, das Zerbrechen traditioneller Milieus, die rasante Beschleunigung durch Technik und Digitalisierung – all dies sind keine isolierten Phänomene, sondern Ausdruck einer existenziellen Unruhe, die das Individuum ebenso erfasst wie das Kollektiv.
Ich habe immer geglaubt, dass Identität nicht aus Abgrenzung, sondern aus Durchlässigkeit und Wandlungsfähigkeit entsteht. Der Mensch ist für mich ein Wesen des Übergangs, ein Wanderer zwischen den Welten, der sich immer wieder neu erfinden und entwerfen muss. Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verwerfungen sind für mich keine Störung, sondern notwendige Geburtswehen einer Gesellschaft, die – ob sie will oder nicht – auf eine neue Stufe ihrer Entwicklung zusteuert.
Wer sich in alte Sicherheiten und kollektive Mythen zurückzieht, mag kurzfristig Trost finden, doch er verkennt die schöpferische Kraft des Wandels. Nur in der Auseinandersetzung mit dem Fremden, im Dialog mit dem Unbekannten, wächst der Einzelne wie das Gemeinwesen.
Die Angst vor Kontrollverlust, vor dem Anderen, vor der Auflösung des Eigenen ist menschlich verständlich, darf aber nicht zur Maxime unseres Handelns werden.
Unsicherheit ist nicht Schwäche, sondern die Voraussetzung für Kreativität, für Empathie, für echtes Wachstum. Ich sehe in der heutigen Zeit weniger eine Krise als vielmehr eine Einladung, die eigene Haltung zu überprüfen, die Begrenztheit der eigenen Perspektive zu erkennen und den Mut zu finden, sich der Ungewissheit zu stellen. Denn nur wer bereit ist, sich zu verändern, kann auch die Welt verändern – und das ist, in letzter Konsequenz, die Aufgabe, die jeder Generation neu gestellt wird.
Viele erleben die Gegenwart als Überforderung – politisch, sozial, digital. Was ist aus Ihrer Sicht der Fehler im Umgang mit dieser Komplexität?
Hesse:
Der Fehler liegt im Drang nach Vereinfachung, nach schnellen Antworten, nach Schuldzuweisungen. Die Versuchung, Komplexität durch Parolen und Feindbilder zu bannen, ist groß – und doch ist sie der sicherste Weg in die geistige Verarmung.
Wirkliche Entwicklung, ob individuell oder gesellschaftlich, verlangt die Fähigkeit, Ambivalenzen auszuhalten, Widersprüche zu denken und Unsicherheiten zu ertragen. Wer sich der Vielschichtigkeit verweigert, verarmt nicht nur intellektuell, sondern auch seelisch.
Die produktivsten Momente meines Lebens waren jene, in denen ich meine eigenen Überzeugungen hinterfragen, Unsicherheiten aushalten und mich dem Unbekannten öffnen musste.
Nur wer die Tiefe des eigenen Zweifels kennt, kann auch echte Orientierung gewinnen. Es ist eine Zumutung, aber auch eine Chance: Denn aus der Bereitschaft, Komplexität zuzulassen, erwächst jene Urteilskraft, die wir heute dringender brauchen als je zuvor.
Sie haben immer die Selbstprüfung und das Infragestellen von Gewissheiten betont. Was bedeutet das konkret für den Einzelnen in einer polarisierten Gesellschaft?
Hesse:
Es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen – nicht für das große Ganze, sondern zunächst für die eigene Haltung. Wer sich selbst nicht befragt, wird zum Spielball der Stimmungen, der Medien, der Meinungen anderer. Wer sich selbst kennt, kann auch dem Anderen begegnen, ohne ihn zu fürchten.
Polarisierung ist keine Naturgewalt, sondern das Resultat von Denkfaulheit und Angst. Jeder kann sich entscheiden, ob er die Welt als Bedrohung oder als Aufgabe begreift.
Die eigentliche Freiheit des Menschen liegt in der Fähigkeit, sich selbst immer wieder neu zu entwerfen und den Anderen als Spiegel und Herausforderung zu begreifen. In meinen Romanen – denken Sie an „Demian“ oder den „Steppenwolf“ – ist diese Selbstprüfung immer der Ausgangspunkt für Entwicklung und Versöhnung mit der Welt.
Was raten Sie Menschen, die inmitten von Unsicherheit und Wandel Orientierung suchen?
Hesse
Orientierung entsteht nicht durch Anpassung an den Lärm der Zeit, sondern durch Konzentration auf das Wesentliche. Das verlangt Disziplin, Geduld und den Mut, sich dem eigenen Denken auszusetzen.
Wer sich selbst nicht ausweicht, findet auch im Wandel Halt. Die Bereitschaft, immer wieder neu zu beginnen, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von geistiger Lebendigkeit. Die große Gefahr unserer Zeit ist nicht der Wandel, sondern die Angst vor ihm.
Wer den Mut hat, sich auf den Prozess einzulassen, wird nicht nur sich selbst, sondern auch der Gesellschaft einen Dienst erweisen. Es ist die Kunst, inmitten der Vielstimmigkeit der Gegenwart die eigene Stimme zu finden – und ihr treu zu bleiben.
Sie haben den Begriff der „Stufen“ geprägt. Was ist die eigentliche Botschaft dieses Gedichts für unsere Gegenwart?
Hesse:
„Stufen“ ist kein Trostgedicht, sondern eine Zumutung. Es erinnert daran, dass jeder Anfang ein Ende voraussetzt und dass jeder Fortschritt Verzicht bedeutet. Wer an Vergangenem festhält, blockiert das Neue. Wer loslässt, gewinnt die Freiheit, sich zu verändern. Das gilt für Individuen wie für Gesellschaften.
Wandel ist kein Defizit, sondern Bedingung für Entwicklung. In jeder Krise liegt die Möglichkeit, über sich hinauszuwachsen, nicht indem man sich betäubt oder ablenkt, sondern indem man sich der Tiefe des Augenblicks stellt.
Die wahre Kunst des Lebens besteht darin, den Zauber des Anfangs nicht zu verlieren – auch dann nicht, wenn die Welt um uns herum unsicher und widersprüchlich erscheint.
Wie können Menschen in dieser Zeit konkret von Ihrer Haltung profitieren?
Hesse:
Indem sie sich nicht mit schnellen Meinungen zufriedengeben. Indem sie lernen, Fragen auszuhalten, Widersprüche zu denken, Komplexität zu ertragen. Literatur ist kein Ersatz für Erfahrung, aber ein Trainingsfeld für Urteilskraft.
Wer liest, um sich zu verändern, nicht um sich zu bestätigen, wird unabhängiger – und damit auch gesellschaftlich wirksamer. Ich wünsche mir Leser, die nicht konsumieren, sondern sich verwandeln lassen, die sich der Zumutung des eigenen Denkens aussetzen und so zu Akteuren einer offenen, lebendigen Gesellschaft werden.
Die Literatur kann kein Rezeptbuch für das Leben sein, aber sie kann den Mut stärken, sich den eigenen Fragen und Zweifeln zu stellen – und damit auch der Welt.
Was wünschen Sie sich für die deutsche Gesellschaft in den kommenden Jahren? Mut zur Selbstkritik, Bereitschaft zur Veränderung, Respekt vor dem Anderen.
Eine Gesellschaft, die Vielfalt nicht als Last, sondern als Chance begreift, wird nicht an Krisen zerbrechen, sondern an ihnen wachsen. Wer den Zauber des Anfangs bewahrt, bleibt fähig, Zukunft zu gestalten. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die nicht im Lärm der Gegenwart verharrt, sondern die Stille und Tiefe sucht, in der echte Erneuerung möglich wird.
Es geht nicht darum, die Unsicherheiten der Gegenwart zu leugnen, sondern sie als Antrieb für einen neuen Humanismus zu begreifen – einen, der das Einzelne und das Gemeinsame, das Fremde und das Eigene, das Endliche und das Offene miteinander versöhnt.
Wenn Sie auf Ihr eigenes Werk und Ihre Wirkung heute blicken: Was ist Ihr Vermächtnis?
Hesse
Mein Vermächtnis ist kein Kanon von Wahrheiten, sondern eine Einladung zum eigenen Denken, zum Zweifel, zur Selbstprüfung.
Ich habe nie geglaubt, dass Literatur die Welt retten kann – aber sie kann den Einzelnen lehren, sich selbst zu retten, indem er die Freiheit und die Verantwortung des Geistes annimmt. Jeder Mensch ist ein werdendes Wesen, und jede Gesellschaft ist nur so lebendig, wie sie bereit ist, sich selbst zu hinterfragen.
Wer das Leben als ständigen Übergang begreift, wird nicht starr, sondern bleibt offen – für das Neue, das Fremde, das Kommende. Das ist der eigentliche Zauber des Anfangs.
Herr Hesse, danke, dass Sie heute bei uns zu Gast waren.
Hesse: Es hat mich gefreut und bis zum nächsten mal.
Das Interview führte Richard Krauss
Glossar relevanter Begriffe
Ambivalenz: Die Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Gefühle, Gedanken oder Haltungen; in Hesses Werk oft als notwendige Voraussetzung für Entwicklung dargestellt.
Authentizität: Echtheit und Treue zu sich selbst; zentrales Motiv bei Hesse, das den Mut zur eigenen Wahrheit und Individualität fordert.
Demian: Roman von Hesse (1919), in dem die Selbstfindung des Protagonisten und die Überwindung gesellschaftlicher Konventionen im Mittelpunkt stehen.
Durchlässigkeit: Offenheit für Wandel, neue Erfahrungen und das Fremde; für Hesse eine Voraussetzung für persönliche und gesellschaftliche Entwicklung.
Entfremdung: Gefühl der Distanz oder Fremdheit gegenüber sich selbst, anderen oder der Gesellschaft; ein Leitmotiv in Hesses Werken, besonders im „Steppenwolf“.
Humanismus: Weltanschauung, die den Menschen, seine Würde und seine Freiheit in den Mittelpunkt stellt; prägt Hesses Denken und Schreiben.
Identität: Das Verständnis vom eigenen Selbst; bei Hesse kein statischer Zustand, sondern ein lebenslanger Prozess der Wandlung und Selbstprüfung.
Individuation: Begriff aus der Psychologie (C. G. Jung), von Hesse aufgegriffen als Prozess der Selbstwerdung und Integration innerer Gegensätze.
Krise: Wendepunkt oder Umbruch, der Unsicherheit, aber auch die Chance zur Erneuerung birgt; in Hesses Werk oft Ausgangspunkt für Entwicklung.
Literaturnobelpreis: Höchste literarische Auszeichnung, die Hesse 1946 für „Das Glasperlenspiel“ und sein Gesamtwerk erhielt.
Migration: Bewegung von Menschen über kulturelle und geografische Grenzen hinweg; im Interview als Metapher für gesellschaftlichen Wandel und Identitätsfragen.
Polarität: Das Nebeneinander oder die Spannung von Gegensätzen (z. B. Geist und Natur, Individuum und Gesellschaft); Hesse sucht in seinen Werken oft nach einer Synthese.
Selbstprüfung: Kritische Auseinandersetzung mit sich selbst; für Hesse Voraussetzung für Reife und Entwicklung.
Selbstverwirklichung: Streben nach Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und Potenziale; zentrales Thema in Hesses Romanen.
Spiritualität: Suche nach Sinn, Transzendenz und innerer Tiefe; prägt viele Figuren und Motive in Hesses Werk, etwa in „Siddhartha“.
Stufen: Berühmtes Gedicht von Hesse (1941), das das Leben als Abfolge von Übergängen und Neuanfängen beschreibt.
Transzendenz: Das Streben nach einer Wirklichkeit, die über das Alltägliche hinausgeht; in Hesses Werk oft verbunden mit Sinnsuche und Mystik.
Wandel: Veränderung als Grundbedingung menschlicher Existenz; für Hesse Quelle von Angst, aber auch von Hoffnung und Kreativität.
Quellenverzeichnis
Hesse, Hermann: Stufen. In: Gesammelte Werke, Bd. 7, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1970.
Hesse, Hermann: Der Steppenwolf. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1927.
Hesse, Hermann: Demian. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1919.
Hesse, Hermann: Siddhartha. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1922.
Hesse, Hermann: Das Glasperlenspiel. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1943.
Safranski, Rüdiger: Ein Meister der Lebenskunst: Hermann Hesse und seine Zeit. Hanser, München 2012.
Statistisches Bundesamt: Demografischer Wandel in Deutschland – Herausforderungen durch Alterung, Migration und Integration (2024).
Socialnet: Zunahme rechtspopulistischer Bewegungen, gesellschaftliche Konfliktlinien, Normalisierung nationalistischer Positionen (2024).
Zeitgenössische gesellschaftspolitische Diskurse: Fridays for Future, Gleichstellungspolitik, Inklusions- und Diversitätsdebatten (2024/25).
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