Shrinkflation in der Luftfahrt - steht die globale Luftfahrtbranche vor einem Strömungsabriss?
- Richard Krauss
- 1. Aug.
- 7 Min. Lesezeit
Von außen wirken die Preisangebote der europäischen Airlines wie ein demokratisiertes Versprechen: Fliegen für alle, zu Einstiegspreisen weit unter dem Bahnfahrtniveau. Doch wer den Prozess der Buchung durchläuft, erkennt schnell, dass der vermeintliche Preis nicht das Produkt ist.
Vielmehr handelt es sich um eine wirtschaftlich orchestrierte Entbündelung von Leistungen, die sich im Phänomen der Tarifsegmentierung mit Shrinkflation überschneidet: Weniger fürs gleiche Geld – bei formal konstantem Angebot.
Low-Cost-Carrier wie Ryanair, easyJet oder Wizz Air haben dieses Modell zuerst eingeführt, klassische Netzwerkgesellschaften wie Lufthansa, Air France oder British Airways zögern inzwischen nicht mehr, ihre einst homogenen Economy-Produkte in modulare Preisstufen zu zerlegen.
Shrinkflation über den Wolken: Der gleiche Flug mit weniger Inhalt
Das dahinterliegende Prinzip der Shrinkflation ist dabei mehr als nur ein Sprachbild. Gemeint ist die systematische Reduktion von Leistungsinhalten bei formal gleichbleibendem Preisniveau – ein Phänomen, das aus dem Lebensmittelhandel bekannt ist, in der Luftfahrt aber eine neue Dimension erreicht.
Der Flug selbst bleibt äußerlich unverändert: gleiche Strecke, gleiche Airline, gleiche Flugzeit. Doch die inkludierten Leistungen – etwa Gepäck, Sitzwahl, Umbuchungsmöglichkeit, Servicepersonal oder selbst der Zugang zu Boardinggruppen – werden sukzessive ausgegliedert, entwertet oder kostenpflichtig gemacht.
Was als Economy-Ticket galt, wird zur Grundstruktur eines Produkts, das erst mit aufpreispflichtigen Optionen seine ursprüngliche Funktion wiedererlangt. Der Ticketpreis suggeriert Konstanz, die Leistung schrumpft.
So entsteht ein Modell, das nicht primär auf Innovation oder Komfort setzt, sondern auf betriebliche Zerlegung. Die Serviceeinheit Flug wird dekonstruiert – und neu bepreist.
Der Vorgang greift dabei tiefer als eine betriebswirtschaftlich motivierte Neuordnung. Denn wo der Preis ein Leistungsversprechen impliziert – Bezahlung gegen Produkt – entsteht mit der fortschreitenden Entbündelung ein Vertrauensbruch. Die buchbare Option ersetzt die zugesagte Leistung.
Das Prinzip der Vorhersehbarkeit wird durch eine Logik der nachträglichen Monetarisierung ersetzt. Gleiches ist auch bei der ANmietung von Mietwagen zu beobachten.
Die Frage, was ein Ticket wirklich beinhaltet, lässt sich oft erst beim Abschluss des Buchungsvorgangs beantworten. Der Konsument wird nicht durch schlechten Service enttäuscht, sondern durch das Ausbleiben des versprochenen Produkts selbst. Im „Economy Light“ gibt es weder Aufgabegepäck noch freie Sitzwahl. Wer klassische Serviceleistungen will, zahlt im Baukastensystem drauf.
Das Ergebnis: Der Einstiegspreis suggeriert günstiges Reisen, der reale Endpreis übertrifft nicht selten das Classic-Ticket etablierter Carrier.
Ein realistisches Reiseszenario verdeutlicht die Paradoxie: Wer drei Monate vor Abflug einen Flug bucht, 23 Kilogramm Gepäck mitnehmen möchte, einen Sitzplatz auswählen und planbar einsteigen will, zahlt bei Lufthansa oder Swiss im Economy-Classic-Tarif zwischen 140 und 160 Euro. Bei Ryanair, Wizz Air oder Vueling liegt der Basispreis zwar bei 30 bis 50 Euro, doch Zusatzkosten summieren sich auf 85 bis 140 Euro.
Der nominelle Preisvorteil der Billigflieger schrumpft bei realistischer Leistungserwartung auf ein Minimum – oder verschwindet.
Für die Airlines ist das dennoch attraktiv. Laut dem „Ancillary Revenue Yearbook“ des Beratungsunternehmens IdeaWorksCompany liegt der Umsatzanteil aus Zusatzverkäufen bei Ryanair bei über 40 Prozent (Stand: 2024).
Nicht der Flugtransport selbst ist das Kerngeschäft, sondern die Monetarisierung von Differenzwünschen. Das funktioniert, weil Transparenz zur Option geworden ist. Dynamische Preissysteme, App-gebundene Check-ins, algorithmische Sitzplatzvergabe und Gebühren bei Systemabweichung schaffen ein Modell, das nicht auf Komfortoptimierung, sondern auf Zahlungsbereitschaft zielt.
Bei klassischen Airlines ist das Modell weniger extrem, aber strukturell angeglichen. Auch Lufthansa oder Air France erheben inzwischen Gebühren für Sitzplatzwahl in bestimmten Tarifen, verkaufen Priority Boarding optional oder überlassen dem Algorithmus, wer wo sitzt. Selbst Business-Class-Kund:innen berichten, dass Boarding Group 1 mit aufpreispflichtigen Economy-Passagieren geteilt werden muss. Der funktionale Mehrwert der Premiumprodukte wird systematisch relativiert.
Diese Entwicklung folgt einer betriebswirtschaftlichen Logik. Airlines streben nach operativer Planbarkeit. Jedes nicht standardisierte Verhalten, jede Umbuchung, Nachfrage oder Sonderbehandlung bedeutet zusätzlichen Aufwand.
Das ideale Passagierverhalten ist reibungslos, vorhersagbar, digital selbstverwaltet. Wer davon abweicht, wird mit Gebühren sanktioniert. Service wird zur Ausnahme, nicht zum Standard.
In besonders radikal durchdeklinierten Low-Cost-Modellen lässt sich der Status des Passagiers zugespitzt so zusammenfassen:
Er ist ein aufrecht sitzendes Cargostück mit Zahlungsfunktion. Der Mensch wird nicht abgewertet, aber auf jene Parameter reduziert, die im System zählen: Gewicht, Volumen, Zahlungsprofil, Boardingzeitpunkt. Alles andere stört die betrieblich kalkulierte Taktung.
Die Dienstleistungsbeziehung wird zur Logistikbeziehung. Wer Service will, zahlt dafür – oder fliegt mit.
Diese Entpersonalisierung ist dabei kein Zufall, sondern hat System. Und es ist ökonomisch effizient. Das Modell lohnt sich, solange Passagier:innen bereit sind, sich in diese Struktur einzufügen.
Die Gefahr liegt nicht in der Kostenstruktur, sondern in der kulturellen Normalisierung eines Verhältnisses, in dem der Mensch nicht mehr Zweck, sondern Mittel betrieblicher Rentabilität ist.
Zu welch ethischen "Preis" gehen wir in die Luft?
Der globale Konzentrations- und Verdrängungswettbewerb setzt die starken Player am Himmel massiv unter Druck. Sicherung von Marktanteilen, Aufkauf von anderen Airlines zur Slotgenerierung, strategische nationale Positionierungen, ein ständiges Ringen von Geschäftsmodel vs Klimaschutz, die Herausforderungen von Investitionen im Kontext globaler Zollpervertierungen zeigen nur einige Aspekte des extrem schwierige Geschäftsumfelds für die Branche an sich.
Eine Folge ist, dass der konzerinterne Wettbewerb von Luftfahrtunternehmen das nach aussen getragene, sympatische Image und des entsprechenden Markenkerns pervertiert.
Radikaler konzerninterer Wettbewerb mit "schlankeren und effizienteren Kostenstrukturen" bei der "Optimierung des Produkts" , bedeutet nichts anderes als das gegenseitige Ausspielen von Mitarbeiter*innen im Bereich der Konzern- Unternehmens- und Tarifpolitik.
Wer es am "billigsten" macht, bekommt den Zuschlag. Konzern Airlines die dazu nicht bereit sind, werden "kalt" gegroundet. Beispiele hierfür gibt es genügend.
Das Beispiel Luftfahrt verdeutlich exemplarisch den Zielkonflikt des globalen unternehmerischen Handelns.
Waren einst Kund*innen der Garant für Wachstum und unternehmerischen Erfolg, gelten diese auch in anderen Wortschaftsbereichen als Kostenfaktor eher als Hinderniss für effizente und schlanke Unternehmensprozesse und die hieraus zu generierenden Erträge.
So wäre es - sicherlich etwas überspitzt und sarkastisch formuliert - folgerichtig, wenn Fluggäste zu Hause blieben und das Geld direkt an die Airlines überweisen würden. Das wäre ressourcen- und umweltschonender.
Vielleicht erbarmt sich ja ein Start Up Unternehmen virtuelle Airlines, zu virtuellen Urlaubszielen kostenpflicht an zubieten. 780er Auflösung in s/w und in 8K in Farbe und Dolby Sound.
And now: Allways fasten your seatbelts, don´t rotate before VR ...and allways happy landings!

Was sollten Verbraucher:innen beim Flugticketkauf beachten? — Praktische Tipps für den Schutz vor Überraschungen
Damit Sie bei Ihrer nächsten Flugbuchung böse Überraschungen vermeiden und tatsächlich das passende Angebot finden, hier die wichtigsten Empfehlungen:
Vergleichen Sie immer den Gesamtpreis!
Prüfen Sie vor Abschluss der Buchung, was im angezeigten Ticketpreis enthalten ist – z. B. Aufgabegepäck, Sitzplatzwahl oder Verpflegung. Addieren Sie gewünschte Zusatzleistungen direkt im Buchungsprozess, damit Sie die realen Endpreise verschiedener Fluggesellschaften vergleichen können.
Achten Sie auf „Drip Pricing“ und versteckte Gebühren:
Manche Airlines gestalten ihre Preisstrukturen gezielt so, dass Kosten erst am Ende sichtbar werden. Seien Sie besonders aufmerksam bei Billigfliegern: Zusatzkosten wie Gepäck, Zahlungsmethoden oder Check-in am Flughafen können den ursprünglichen Schnäppchenpreis erheblich erhöhen.
Informieren Sie sich über Ihre Fluggastrechte:
Im Fall von Verspätungen, Flugausfällen oder Gepäckverlust stehen Ihnen europaweit Rechte zu (EU-Verordnung 261/2004). Notieren Sie sich vor Reiseantritt die Kontaktdaten des zuständigen Kundendienstes der ausführenden Airline und bewahren Sie alle Buchungsbelege gut auf.
Bewerten Sie nicht nur den Preis, sondern auch Service und Erreichbarkeit im Ernstfall:
Ein scheinbar günstiger Flug ist oft mit weniger Service und schwierigerer Erreichbarkeit im Problemfall verknüpft. Machen Sie sich vorab klar, wie wichtig Ihnen Kulanz und Unterstützung im Störungsfall sind.
Tabellarischer Vergleich: Preis- vs. Leistungsperspektive (Buchung 3 Monate vor Abflug)
Leistung / Kostenfaktor | Netzwerk-Carrier (z. B. Lufthansa Classic) | Low-Cost-Carrier (z. B. Ryanair + Add-ons) |
Einstiegspreis | 140–160 € | 30–50 € |
23 kg Aufgabegepäck | inklusive | +30–50 € |
Sitzplatzwahl | inklusive | +10–25 € |
Priority / Check-in | tw. inklusive | +7–15 € |
Gesamtpreis | 140–160 € (planbar) | 85–140 € (variabel) |
Transparenz | wahrnehmbar (pauschal) | gering (Drip Pricing) |
Service & Betreuung | stabil, standardisiert | reduziert, zubuchbar |
Airline-Ertragsmodell | stabiler Ticketpreis, begrenzte Marge | dynamisch, Zusatzerlöse zentral |
Glossar
App-gebundener Check-in
Ein Verfahren, bei dem der Check-in ausschließlich über die Airline-App erfolgt. Ziel ist die Verlagerung betrieblicher Abläufe auf den Passagier – mit Einsparungen auf Kosten persönlicher Serviceoptionen.
Boardinggruppen
Ein System gestaffelter Einsteigeprioritäten, oft nach Tarifklasse oder Zusatzbuchungen. Boardinggruppe 1 ist häufig kostenpflichtig – selbst bei höheren Tarifen, was zu Irritationen bei Business-Reisenden führt.
Drip Pricing
Strategie, bei der der Einstiegspreis im Buchungsverlauf durch Zusatzkosten (z. B. für Gepäck oder Sitzwahl) deutlich steigt. Der finale Gesamtpreis wird oft erst im letzten Buchungsschritt sichtbar.
Economy Light
Tarif ohne aufgegebenes Gepäck, Sitzwahl oder Umbuchungsoption. Gedacht als Konkurrenzangebot zu Billigfliegern, de facto oft eine abgespeckte Version früherer Standardtarife.
Entbündelung
Das Herauslösen vormals inkludierter Leistungen aus einem Gesamtprodukt. Führt zu mehr Flexibilität für die Airline, aber auch zu Intransparenz und Mehrkosten für Passagier:innen.
Low-Cost-Carrier (LCC)
Fluggesellschaften mit extrem schlanker Kostenstruktur, minimalem Service und starkem Fokus auf Zusatzverkäufe. Beispiele: Ryanair, Wizz Air, easyJet.
Monetarisierung von Differenzwünschen
Betriebswirtschaftliches Modell, das gezielt aus abweichenden Kundenwünschen (z. B. schnelleres Boarding, mehr Beinfreiheit) zusätzliche Erlöse generiert.
Operative Planbarkeit
Zielvorgabe in Airline-Prozessen: maximale Standardisierung, minimale Abweichung. Alles Unvorhersehbare (z. B. Sonderwünsche) wird entweder ausgeschlossen oder bepreist.
Segmentierung (Shrinkflation)
Zergliederung von Produktangeboten in aufpreispflichtige Einzelkomponenten – z. B. Sitzplatz, Gepäck, Bordverpflegung. Oft verbunden mit Leistungsabbau bei gleichbleibendem Preis.
Serviceentwertung
Reduktion oder Monetarisierung bisher selbstverständlicher Leistungen – etwa Bordverpflegung, Kundenservice oder persönlicher Check-in. Die Folge ist eine systematische Umwertung des Produkts Flug.
Shrinkflation
Ökonomisches Phänomen, bei dem der Preis gleich bleibt, aber der Leistungsumfang sinkt. In der Luftfahrt sichtbar z. B. durch Wegfall von Inklusivleistungen bei gleichbleibendem Tarifnamen.
Tarifstruktur
Die hierarchische Gliederung der buchbaren Preiskategorien bei einer Airline. Beinhaltet auch die darin enthaltenen oder ausgegrenzten Leistungen.
Transparenz (Preisstruktur)
Grad der Nachvollziehbarkeit eines Angebots. Im Luftfahrtbereich häufig eingeschränkt durch dynamische Preise, In-App-Optionen und variable Zusatzkosten.
Wet-Leasing
Anmietung kompletter Flugzeuge inklusive Crew, Wartung und Versicherung von einer Dritt-Airline. Wird häufig zur Kapazitätsanpassung oder Kostenoptimierung genutzt – oft unter fremdem Branding.
Yield Management
Ertragssteuerung durch flexible Preisgestaltung: Flugpreise verändern sich laufend in Abhängigkeit von Buchungszeitpunkt, Auslastung und Nachfrageprognosen.
Zusatzerlöse (Ancillary Revenue)Umsätze, die nicht aus dem Flugpreis, sondern aus zusätzlichen Buchungen stammen – etwa für Gepäck, Sitzplätze, Umbuchungen oder Bordverkauf. Bei Low-Cost-Carriern teils über 40 % des Umsatzes.
Quellen
IdeaWorksCompany / CarTrawler (2023):
2023 Yearbook of Ancillary Revenue.Angaben zu Zusatzumsätzen bei Ryanair (über 40 %).https://ideaworkscompany.com
Lufthansa Group Investor Relations (2024):Dividend Proposal 2023 – Dividendenauszahlung im Jahr 2024 (0,30 € pro Aktie, ca. 359 Mio. €).https://investor-relations.lufthansagroup.com/en/share-bonds/dividend.html
Wall Street Journal (07.03.2024):Lufthansa profit more than doubles in 2023 – dividend reinstated.https://www.wsj.com/articles/deutsche-lufthansa-2023-net-pft-eur1-67b-40240c08
Reuters (07.03.2024):Lufthansa drops 2024 margin target as costs rise – dividend of 0.30 € per share announced.https://www.reuters.com/business/aerospace-defense/lufthansa-drops-2024-operating-margin-target-76-costs-rise-2024-03-07
Lufthansa Group – Geschäftsbericht 2023 (veröffentlicht 2024):Finanzkennzahlen, Passagierzahlen und Ertragsverteilung.https://investor-relations.lufthansagroup.com/de/publikationen/geschaeftsberichte.html
Lufthansa Group – Verkehrszahlen (2023):122,5 Millionen beförderte Passagiere im Jahr 2023.https://investor-relations.lufthansagroup.com/en/facts-figures/traffic-figures.html
Buchungsrecherchen auf den offiziellen Websites (Stand: Juli 2025):Vergleichstarife und Leistungen bei Lufthansa, Swiss, Ryanair, Vueling und Wizz Air.https://www.lufthansa.comhttps://www.ryanair.comhttps://www.wizzair.comhttps://www.vueling.com
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