Missbrauch in der Evangelischen Kirche - „Denn es ist nichts verborgen, das nicht offenbar wird, und nichts geheim, das nicht ans Licht kommt.“ – Lukas 8,17
- Richard Krauss
- 2. Aug.
- 21 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 2. Aug.
Einleitung
Der vorliegende Text ist weder Anklage noch Verteidigung der Institution Kirche. Er versteht sich als Versuch einer momentanen Bestandsaufnahme.
Doch jede Form der Darstellung – seien es statistische Erhebungen, analytische Rückblicke auf Ursachen und Wirkungen oder die Beschreibung kirchlicher Präventionsprogramme – bleibt unzureichend angesichts des unermesslichen Leids, das Betroffene sexualisierter Gewalt erfahren haben.
Kein Text kann den Schmerz, die Traumatisierung und das Gefühl der Ohnmacht, das viele Opfer ein Leben lang begleitet, wirklich begreifen oder adäquat wiedergeben. Umso mehr ist dieser Beitrag getragen von dem Bemühen, das begangene Unrecht sichtbar zu machen, Verantwortung zu benennen und mit aller Deutlichkeit für Strukturen einzutreten, die Wiederholung unmöglich machen sollen.
Sexualisierte Gewalt ist kein Phänomen, das sich auf einzelne Milieus oder Institutionen beschränkt – sie durchdringt alle gesellschaftlichen Schichten. Diese Erkenntnis darf keinesfalls relativieren, sondern fordert dazu auf, das Leid der Betroffenen in seiner gesamtgesellschaftlichen Dimension zu begreifen und Verantwortung auf allen Ebenen wahrzunehmen.
Dabei verbieten sich pauschale Verurteilungen der Kirche als Ganzes ebenso wie die generelle Schuldzuweisung an alle ihre Mitarbeitenden. Ein differenzierter Blick ist unverzichtbar:
Nur wer zwischen Verantwortung und Unschuld, zwischen strukturellem Versagen und persönlicher Integrität unterscheidet, kann zur notwendigen Aufarbeitung glaubwürdig beitragen.
Gerade die evangelische Kirche steht in einer doppelten Verantwortung – institutionell und geistlich. Als Gemeinschaft, die das Evangelium Jesu Christi verkündet, das den Schutz der Schwachen, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit ins Zentrum stellt, ist sie theologisch wie ethisch verpflichtet, dem ihr anvertrauten Raum des Vertrauens nicht durch Verdrängung oder Schweigen zu widersprechen.
Alle Ebenen kirchlichen Handelns – von den Gemeinden über Kirchenkreise bis hin zu den Landeskirchen – haben die Pflicht, eine vollständige, lückenlose und zeitnahe Aufklärung zu leisten. Diese Pflicht folgt nicht nur aus rechtlicher Rechenschaft, sondern aus dem Selbstverständnis einer Kirche, die in der Nachfolge Christi glaubwürdig sein will.
„Das Verdrängte kehrt wieder – und zwar in deformierter Gestalt.“ - Sigmund Freud, 1923
Freuds Diktum verweist auf einen zentralen Mechanismus psychischer Selbstorganisation.
Verdrängung ist kein endgültiges Vergessen, sondern ein aktiver Abwehrvorgang des Ichs, der belastende oder inakzeptable Inhalte aus dem Bewusstsein ausschließt.
Diese Inhalte – häufig traumatische Erfahrungen, aber auch Schuld, Scham oder Aggression – verschwinden jedoch nicht, sondern wirken im Unbewussten weiter und treten irgendwann in veränderter, oft symptomatischer Form wieder hervor.
Auf den institutionellen Kontext übertragen, lässt sich dieser Mechanismus als kulturelle oder kollektive Verdrängung begreifen: Die evangelische Kirche – wie auch andere Institutionen – hat über lange Zeit hinweg eine Praxis des Nichtwissens etabliert.
Erfahrungsberichte von Betroffenen wurden nicht offen thematisiert, sondern häufig relativiert, vereinzelt oder strukturell unsichtbar gemacht. Das „Verdrängte“ war in diesem Fall nicht nur das individuelle Trauma, sondern auch das institutionelle Wissen über seine systemische Relevanz.
Die „deformierte Gestalt“, in der das Verdrängte nun zurückkehrt, zeigt sich auf mehreren Ebenen: in biografischen Langzeitfolgen für Betroffene = Menschen, denen schweres Leid zugefügt wurde, deren Leid in Abrede gestellt wurde oder gar als unglaubwürdig dargestellt wurden.
Es sind Menschen, die Jahrzehnte brauchten, um das Erlebte einzuordnen; in medialen Debatten, die zwischen Empörung und Ermüdung schwanken; in juristischen und theologischen Konflikten über Verantwortung, Entschädigung und Deutungshoheit. Die ursprüngliche Erfahrung kehrt nicht rein zurück, sondern gefiltert durch Zeit, Sprache, kollektive Abwehr und öffentliche Erwartung.
Einleitung
Die im Januar 2024 veröffentlichte ForuM-Studie hat das Ausmaß sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie umfassend beleuchtet.
Die Studie schätzt, dass seit 1946 über 9.000 Minderjährige betroffen waren, wobei die identifizierten 2.225 Fälle lediglich die „Spitze des Eisbergs“ darstellen, bedingt durch ein erhebliches Dunkelfeld und fehlende Akten.
Systemische Mechanismen wie Machtungleichgewichte, unklare Grenzziehungen und der Missbrauch theologischer Konzepte wie „Schuld und Vergebung“ oder des „Seelsorgegeheimnisses“ begünstigten den Missbrauch und seine Vertuschung.
Obwohl die EKD bedeutende Aufarbeitungs- und Präventionsmaßnahmen eingeleitet hat, bestehen weiterhin erhebliche Herausforderungen. Interne Kritik an der Unabhängigkeit der Aufarbeitung, inkonsistente Umsetzungen in den Landeskirchen und Diskrepanzen bei den Anerkennungsleistungen für Betroffene sind deutliche Indikatoren für einen noch unvollendeten Prozess.
Die grundlegende Spannung zwischen dem institutionellen Selbsterhalt und einer echten, betroffenenorientierten Aufarbeitung sowie die Notwendigkeit einer stärkeren externen Kontrolle und rechtlicher Rahmenbedingungen bleiben zentrale Aufgaben.
Für einen nachhaltigen Wandel sind umfassende Unterstützung für Betroffene, eine wahrhaft unabhängige Aufarbeitung, die Standardisierung und konsequente Umsetzung von Schutzkonzepten sowie eine kritische Reflexion institutioneller und theologischer Strukturen unerlässlich.
Eine stärkere Einbindung staatlicher Instanzen und gesetzliche Verpflichtungen sind dabei entscheidend, um den Schutz von Kindern und Jugendlichen über interne kirchliche Belange zu stellen.
Kontext und Bedeutung sexualisierter Gewalt in der EKD
Sexualisierte Gewalt in religiösen Institutionen ist in Deutschland zu einem kritischen gesellschaftlichen Thema avanciert. Die öffentliche Aufmerksamkeit richtete sich zunächst primär auf die Katholische Kirche, insbesondere nach dem „Missbrauchsskandal“ im Jahr 2010. Dieses Ereignis löste eine verzögerte, aber notwendige öffentliche Debatte und Aufarbeitungsbemühungen innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) aus.
Im Gegensatz zur Katholischen Kirche begann die EKD ihre öffentliche Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt erst später, um das Jahr 2018. Kritiker stellten fest, dass die EKD in dieser Phase im „Windschatten“ der katholischen Diskussion agierte, was zu einer unzureichenden und verzögerten Reaktion führte.
Frühe Bemühungen nach dem Fall Maria Jepsen im Jahr 2010 und der Nordkirchen-Studie von 2014 führten zu einem „Flickenteppich“ unabhängiger Ansprechstellen und Kommissionen in den einzelnen Landeskirchen, deren Inkonsistenz von Betroffenen kritisiert wurde.
Die Veröffentlichung der „ForuM“-Studie am 25. Januar 2024, die von der EKD und ihren 20 Landeskirchen in Auftrag gegeben wurde, stellt einen Wendepunkt dar.
Dieses unabhängige wissenschaftliche Forschungsprojekt, das auf drei Jahre angelegt ist und rund 3,6 Millionen Euro kostet, soll eine systematische Grundlage für die institutionelle Aufarbeitung schaffen. Die Studie zielt darauf ab, ein umfassendes Bild der sexualisierten Gewalt in der EKD und Diakonie zu zeichnen, Zusammenhänge besser zu verstehen, Risiken zu minimieren und die Präventions- und Interventionsarbeit sowie den Umgang mit Betroffenen zu verbessern.
Dieser Bericht wird die Ergebnisse der ForuM-Studie und verwandter Initiativen detailliert analysieren, um einen umfassenden Überblick über den aktuellen Stand, die zugrunde liegenden systemischen Probleme, die laufenden Aufarbeitungsbemühungen und zukünftige Präventionsstrategien innerhalb der EKD und ihrer Diakonie zu geben.
Bestandsaufnahme: Ausmaß und Umfang des Missbrauchs
Quantitative Ergebnisse der ForuM-Studie
Die ForuM-Studie schätzt, dass seit 1946 mehr als 9.000 Minderjährige in der Evangelischen Kirche und Diakonie sexuell missbraucht wurden. Konkret identifizierte die Studie auf der Grundlage verfügbarer Akten
1.259 mutmaßliche Täter und 2.225 Betroffene. Das Durchschnittsalter der Betroffenen zum Zeitpunkt der ersten Tat lag bei etwa 11 Jahren.
Die Untersuchung ergab, dass sexualisierte Gewalt nicht auf bestimmte Berufsgruppen, klassische Täterkonstellationen oder spezifische lokale oder zeitliche Umstände, wie etwa die Heimerziehung der 1950er- und 1960er-Jahre oder den Liberalisierungsdiskurs der 1970er- und 1980er-Jahre, reduziert werden kann.
Vielmehr wurde Missbrauch in nahezu allen Einrichtungen und Handlungsfeldern innerhalb der EKD und Diakonie nachgewiesen, darunter Kindertagesstätten, Kirchengemeinden, evangelische Jugendarbeit, Pfarrhäuser und Pfarrfamilien, Heime und Kollegien. Dies unterstreicht, dass es sich um ein Problem handelt, das die gesamte Evangelische Kirche und Diakonie in Deutschland betrifft.
Das „Dunkelfeld“ und Datenbeschränkungen
Trotz der signifikanten Zahlen betonen sowohl die Forschenden als auch Betroffenenvertreter konsequent, dass diese Ergebnisse lediglich die „Spitze des Eisbergs“ oder sogar die „Spitze der Spitze des Eisbergs“ darstellen. Dies impliziert eine weitaus höhere Anzahl von Fällen, die nicht gemeldet oder dokumentiert wurden. Die Forschenden mussten auf Hochrechnungen zurückgreifen, da etliche Akten nicht zur Verfügung standen. So wurden beispielsweise nur etwa 4.300 Disziplinarakten, 780 Personalakten und 1.320 weitere Unterlagen ausgewertet.
Ein Psychiater, Dreßing, kritisierte zudem die Zuarbeit der evangelischen Landeskirchen bei der Datenerhebung, da diese mutmaßlich 70 % der Täter und Betroffenen nicht erfasst hätten.
Die wiederholte Betonung des „Dunkelfeldes“ und die Notwendigkeit von Hochrechnungen aufgrund fehlender Akten sind nicht nur methodische Einschränkungen. Wenn Tausende von Fällen geschätzt, aber nur ein Bruchteil davon dokumentiert ist, deutet dies auf ein systemisches Versagen in der Aktenführung, der Meldepraxis und der Rechenschaftspflicht über Jahrzehnte hinweg hin.
Das Fehlen dieser Unterlagen ist demnach keine zufällige Gegebenheit, sondern eine Konsequenz institutioneller Praktiken, die in der Vergangenheit die Verheimlichung und den Selbstschutz der Organisation priorisierten. Dies legt nahe, dass das Problem tief in der Organisationskultur verwurzelt ist, was eine vollständige Erfassung des Ausmaßes und eine adäquate Reaktion erschwert.
Das „Dunkelfeld“ ist somit ein Indikator für historische institutionelle Mechanismen, die die Offenlegung unterdrückten und Täter schützten. Die Schwierigkeit, das volle Ausmaß des Problems aufgrund dieser historischen Praktiken zu quantifizieren, behindert zudem eine effektive Zuweisung von Ressourcen für die Unterstützung Betroffener und die Prävention. Gleichzeitig untergräbt dies das Vertrauen der Öffentlichkeit, da die Institution den Anschein erweckt, das Problem nicht vollständig anerkennen oder bewältigen zu können.
Vergleich mit der MHG-Studie der Katholischen Kirche
Zum Vergleich wurden bei der MHG-Studie der katholischen Deutschen Bischofskonferenz im Jahr 2018 etwa 38.000 Personalakten durchgesehen, was die Anzahl der von der EKD-Studie ausgewerteten Personalakten (780) erheblich übertrifft.
Eine ältere Studie der Universität Ulm aus dem Jahr 2019 schätzte, dass etwa
114.000 Betroffene sexualisierten Missbrauchs sowohl durch katholische Priester als auch durch Pfarrer und Mitarbeiter in evangelischen Kirchen zu erwarten sind. Dies deutet auf ein weitaus größeres Gesamtproblem hin, als die offiziell identifizierten Zahlen der ForuM-Studie abbilden.
Die weite Spanne der Zahlen, von den identifizierten Fällen bis zu den breiten Schätzungen, schafft erhebliche Ambiguität. Obwohl das „Dunkelfeld“ einen Teil dieser Diskrepanz erklärt, deutet die schiere Größenordnung des Unterschieds (Tausende gegenüber Zehntausenden) darauf hin, dass die Bestandsaufnahme noch lange nicht vollständig oder allgemein akzeptiert ist.
Dies kann zu öffentlicher Skepsis hinsichtlich der Transparenz der Kirche und der Gründlichkeit ihrer Bemühungen führen. Es erschwert auch für Betroffene das Gefühl, dass das volle Ausmaß des ihnen und anderen zugefügten Leids anerkannt wird. Die anhaltende Debatte über das wahre Ausmaß des Missbrauchs, verstärkt durch unterschiedliche Zahlen, untergräbt die Glaubwürdigkeit des Aufarbeitungsprozesses.
Es kann den Eindruck erwecken, dass die Institution immer noch nicht vollständig transparent ist oder das Problem herunterspielt, was wiederum das Engagement der Betroffenen und das Vertrauen in neue Initiativen behindern kann.
Tabelle: Vergleichende Übersicht: Sexualisierte Gewalt in der EKD (ForuM-Studie, 2024) vs. Katholischer Kirche (MHG-Studie, 2018)
Merkmal | Evangelische Kirche (ForuM-Studie, 2024) | Katholische Kirche (MHG-Studie, 2018) |
Veröffentlichungsjahr | 2024 | 2018 |
Geschätzte Opfer (gesamt) | > 9.000 | ~114.000 (geschätzt gesamt für beide Kirchen, Ulm Uni, 2019) |
Identifizierte Opfer | 2.225 | 3.677 |
Identifizierte Beschuldigte | 1.259 | 1.690 |
Ausgewertete Personalakten | 780 | 38.000 |
Weitere Akten ausgewertet | 4.300 Disziplinarakten, 1.320 weitere Unterlagen | Nicht spezifisch aufgeführt |
Konzept des „Dunkelfelds“ | Ja, „Spitze des Eisbergs“ | Ja, „absolute Hellfeld“ |
Diese Tabelle verdeutlicht die unterschiedliche Datengrundlage und den Umfang der Aktenprüfung zwischen den beiden Studien. Die signifikant geringere Anzahl der von der ForuM-Studie ausgewerteten Personalakten im Vergleich zur MHG-Studie unterstreicht die Herausforderungen bei der Datenerhebung und die anhaltende Problematik des Dunkelfeldes in der EKD.
Dies hat direkte Auswirkungen auf die Vollständigkeit der Bestandsaufnahme und die Effektivität der nachfolgenden Aufarbeitungsprozesse.
Mechanismen: Institutionelle Faktoren und ermöglichende Strukturen
Interne Kirchenstrukturen und Selbstwahrnehmung
Berichte von Betroffenen belegen konsistent die Existenz täterschützender und verharmlosender Strukturen innerhalb der EKD, die eine sachgerechte Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der Vergangenheit verhindert haben und weiterhin behindern.
Ein entscheidender Befund ist, dass das Selbstverständnis der EKD als
„offene und liberale Kirche“ paradoxerweise dazu führte, dass Betroffene sich nicht meldeten. Viele Betroffene gingen anfänglich davon aus, dass „evangelische Räume“ per se sicher und gewaltfrei seien, was zu einem Mangel an kritischer Wachsamkeit führte und dazu, dass „zu wenig hingeschaut worden“ sei.
Dieses positive Außenbild der Institution, wenn es nicht durch robuste interne Schutzmechanismen und Rechenschaftspflichten untermauert wird, kann als eine Form der institutionellen Tarnung wirken, die es dem Missbrauch ermöglicht, unentdeckt und ungemeldet zu bleiben.
Machtungleichgewichte und fehlende Grenzziehungen
Die ForuM-Studie identifiziert ungleiche Machtverhältnisse zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen als einen zentralen Faktor. Diese ungleichen Verhältnisse erleichterten Tätern nicht nur den Zugang, sondern riefen bei Betroffenen auch Gefühle der Machtlosigkeit und Unterlegenheit hervor, die das Sprechen über die erlebte sexualisierte Gewalt erheblich erschwerten.
Betroffene berichteten zudem von einer durchgängigen Grenzen- und Distanzlosigkeit auf mehreren Ebenen im Umgang miteinander, insbesondere im körperlichen Bereich. Es habe keine ausreichend klaren Grenzen und Regeln im Umgang miteinander oder in Jugendarbeits- sowie Seelsorge-Settings gegeben.
Diese unklaren Grenzziehungen erleichterten sexualisierte Gewalt und unentdecktes Handeln, da es für Betroffene und Außenstehende an klaren Orientierungshilfen mangelte.
Unzureichende Kontrollmechanismen und institutionelle blinde Flecken
Ein wesentlicher ermöglichender Faktor war das Fehlen angemessener Kontrollmechanismen für Mitarbeitende. Es wurde ein mangelhafter Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten und Meldungen sexualisierter Gewalt durch Personen aus evangelischen Kontexten, explizit verantwortliches pädagogisches Personal sowie kirchliche Verantwortungsträger beschrieben.
Das „Seelsorgegeheimnis“ wurde von Geistlichen häufig als Begründung angeführt, Hinweise auf sexuelle Gewalt nicht weiterzugeben, selbst wenn sie von ihrer Schweigepflicht entbunden wurden. Dieser Mechanismus, der dem „Beichtgeheimnis“ in der Katholischen Kirche ähnelt , stellt eine kritische institutionelle und rechtliche Lücke dar.
Obwohl es zum Schutz der Vertraulichkeit in der Seelsorge gedacht ist, diente es in der Praxis als Schutzschild für Täter und als Hindernis für die Justiz. Die Tatsache, dass es selbst bei Entbindung von der Schweigepflicht weiterhin angeführt wurde, deutet auf einen tief verwurzelten kulturellen Widerstand gegen externe Rechenschaftspflicht hin.
Historische Praktiken der Versetzung und Wiedereingliederung von Beschuldigten/Tätern sind ebenfalls belegt, wie aus Stasi-Akten der ehemaligen DDR hervorgeht. Solche Maßnahmen blieben oft ohne Konsequenzen und dienten der Vertuschung von Missbrauch, anstatt ihn zu adressieren.
Missbrauch theologischer Konzepte
Fabian Kessl, Co-Autor der ForuM-Studie, hebt hervor, dass das Verständnis von „Schuld und Vergebung“ innerhalb der EKD ein erhebliches Problem im Kontext der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt darstellt.
Dies deutet darauf hin, dass theologische Konzepte, die für den Glauben zentral sind, missbräuchlich angewendet werden können, um die Rechenschaftspflicht zu minimieren oder Betroffene zu einer vorzeitigen Versöhnung zu drängen. Dies kann unbeabsichtigt Täter schützen und eine echte Aufarbeitung behindern.
Auswirkungen auf Betroffene
Betroffene berichten von schwerwiegenden und lang anhaltenden Folgen des Missbrauchs, darunter gravierende gesundheitliche, emotionale und soziale Probleme, insbesondere in (Partnerschafts-)Beziehungen. Ein signifikanter Befund ist das Auftreten
schwerer spiritueller Krisen, die ihr Verhältnis zu Gott und/oder der Evangelischen Kirche nachhaltig erschüttern.
Die wiederholten Hinweise auf Machtungleichgewichte, fehlende Grenzen, mangelnde Kontrollmechanismen und das positive Außenbild der EKD sind keine isolierten Faktoren, sondern miteinander verbundene Elemente, die eine systemische Vulnerabilität bilden. Machtungleichgewichte werden dort ausgenutzt, wo Grenzen unklar sind und Aufsicht fehlt.
Diese gefährliche Kombination wird zusätzlich durch ein positives institutionelles Bild verschleiert, das Misstrauen und Meldungen entmutigt. Dies schafft einen sich selbst verstärkenden Kreislauf, in dem Missbrauch begünstigt, verheimlicht und schwer aufzudecken ist. Eine wirksame Prävention und Aufarbeitung muss daher alle diese miteinander verbundenen Mechanismen gleichzeitig angehen, um das gesamte Ökosystem, das den Missbrauch ermöglichte, abzubauen und neu aufzubauen.
Aufarbeitung: Bearbeitung und Bewältigung vergangenen Missbrauchs
Verzögerte öffentliche Anerkennung und frühe Herausforderungen
Die öffentliche Diskussion über sexualisierte Gewalt in der EKD begann erst im Jahr 2018 , deutlich später als in der Katholischen Kirche. Frühe Bemühungen nach dem Fall Maria Jepsen im Jahr 2010 und der Nordkirchen-Studie von 2014 führten zu einem „Flickenteppich“ unabhängiger Ansprechstellen und Kommissionen in den einzelnen Landeskirchen, deren Inkonsistenz von Betroffenen kritisiert wurde.
Die ForuM-Studie und ihre Rolle
Die ForuM-Studie, veröffentlicht im Januar 2024, soll eine systematische Grundlage für die institutionelle Aufarbeitung bilden, um das Verständnis zu verbessern, Risiken zu minimieren und Prävention, Intervention sowie den Umgang mit Betroffenen zu optimieren. Die Studie profitierte maßgeblich von der Beteiligung Betroffener, die ihr Wissen über Täterstrategien und Vertuschungspraktiken einbrachten. Die Forschenden arbeiteten unabhängig.
Aktuelle Initiativen und Maßnahmen
Der Rat der EKD und die Landeskirchen haben eine „Gemeinsame Erklärung zur Aufarbeitungsstudie ForuM“ verabschiedet. Ein Maßnahmenplan mit 12 konkreten, umfassenden Maßnahmen auf Grundlage der ForuM-Studienergebnisse wurde von der EKD-Synode genehmigt. Eine Reform des kirchlichen Disziplinarrechts wurde im November 2024 verabschiedet, um Betroffenen mehr Rechte einzuräumen. Die Vernetzungsplattform BeNe für Betroffene ist online.
Eine neue Anerkennungsrichtlinie wurde im März 2025 vom Rat der EKD verabschiedet, mit dem Ziel, die Anerkennungsverfahren für Betroffene in allen Landeskirchen bis 2026 zu vereinheitlichen und zu verbessern. Unabhängige Regionale Aufarbeitungskommissionen (URAK) haben ihre Arbeit aufgenommen (z.B. URAK Nord-Ost), wobei Betroffenenvertreter nun an den Aufarbeitungsentscheidungen beteiligt sind.
Herausforderungen und Kritik bei den Aufarbeitungsbemühungen
Trotz dieser Initiativen gibt es weiterhin erhebliche Herausforderungen und Kritik:
Verwechslung von „Aufdeckung“ mit „Aufarbeitung“: Fabian Kessl, Co-Autor der Studie, stellte fest, dass „Aufdeckung mit Aufarbeitung verwechselt“ werde. Dies deutet auf eine Konzentration auf die Offenlegung von Zahlen hin, anstatt einen tiefgreifenden systemischen Wandel zu vollziehen.
„Aufdeckung“ ist ein notwendiger erster Schritt, doch „Aufarbeitung“ ist ein viel tieferer, transformativer Prozess, der systemische Veränderungen, Gerechtigkeit für Betroffene und kulturelle Verschiebungen impliziert.
Wenn sich die Institution primär auf die Offenlegung konzentriert, besteht die Gefahr eines oberflächlichen Engagements, das Probleme zwar aufzeigt, aber die zugrunde liegenden Ursachen nicht grundlegend angeht oder umfassende Wiedergutmachung leistet.
Institutioneller Widerstand und Erfahrungen Betroffener:
Betroffene berichteten, auf „Gummiwände“ zu stoßen, monate- oder jahrelang auf Antworten warten zu müssen und bei ihren Forderungen Ausgrenzung und Diskreditierung zu erfahren. Katharina Kracht bezeichnete die EKD als „zahnlosen Tiger“ und forderte, das „Recht auf Aufarbeitung“ im Kirchenrecht festzuschreiben.
Diskrepanzen bei Anerkennungsleistungen:
Die Sprecherin der Betroffenen, Nancy Janz, betonte, dass die Entschädigungssummen „noch niedriger als in der katholischen Kirche“ seien. Daten zeigen, dass Betroffene von den evangelischen Landeskirchen durchschnittlich 13.370 Euro pro Fall erhielten, während die katholischen Bistümer im Schnitt 21.287 Euro zahlten. Unabhängig von der offiziellen Haltung der EKD sendet die wahrgenommene und tatsächliche Diskrepanz bei den Entschädigungszahlungen eine starke Botschaft an die Betroffenen über den Wert, der ihrem Leiden beigemessen wird. Dies kann zu Gefühlen der sekundären Viktimisierung, Ungerechtigkeit und mangelnder Anerkennung führen.
Interne Kritik an der Unabhängigkeit:
Jacob Joussen, Mitglied des EKD-Rates, kritisierte den Umgang der EKD mit der Aufarbeitung und erklärte, „Eine Institution wie die EKD kann sich nicht selbst aufarbeiten“, und forderte eine „Externalisierung“. Dies führte zu seinem Rücktritt aus dem EKD-Rat. Obwohl die Forschenden der ForuM-Studie unabhängig sind, verbleibt die letztendliche Kontrolle über Umfang, Finanzierung und Umsetzung der Ergebnisse bei der Institution selbst. Dies schafft eine inhärente Spannung.
Wenn interne Stimmen innerhalb der EKD die Unabhängigkeit in Frage stellen, deutet dies auf eine grundlegende Herausforderung hin, die notwendige Distanz und Objektivität für eine wirklich betroffenenorientierte Aufarbeitung zu erreichen. Der Selbsterhaltungstrieb der Institution kann den Prozess subtil oder offen beeinflussen, selbst bei externen Forschenden.
„Verständigungsprobleme“ der Führung:
Die amtierende Ratsvorsitzende der EKD, Kirsten Fehrs, äußerte „Verständigungsprobleme“ mit dem Forschungsteam , was auf eine mögliche Diskrepanz bei der Akzeptanz unbequemer Ergebnisse hindeutet. Dies kann auf einen Kampf innerhalb der EKD-Führung hindeuten, die unbequemen Wahrheiten, die die unabhängige Studie aufdeckt, vollständig zu akzeptieren und zu verinnerlichen.
„Verständigungsprobleme“ können ein Euphemismus für Widerstand gegen Ergebnisse sein, die das Selbstverständnis der Institution in Frage stellen, unbequeme Rechenschaftspflichten fordern oder grundlegende Verschiebungen in Macht und Kultur erfordern. Dieser Widerstand kann zu einer selektiven oder abgeschwächten Umsetzung von Empfehlungen führen.
Finanzielle Herausforderungen für Betroffenenunterstützung:
Der bundesweite „Fonds sexueller Missbrauch“ stellte im März 2025 die Annahme neuer Anträge aufgrund unzureichender Mittel ein, was auf breitere gesellschaftliche Finanzierungsprobleme bei der Unterstützung Betroffener hinweist.
Vergleich der Aufarbeitungsansätze mit der Katholischen Kirche
Die MHG-Studie der Katholischen Kirche hat deutlich mehr Personalakten ausgewertet als die ForuM-Studie der EKD. Es bestehen zudem bemerkenswerte Unterschiede bei den Anerkennungsleistungen. Sowohl das „Beichtgeheimnis“ (katholisch) als auch das „Seelsorgegeheimnis“ (EKD) dienten als Mechanismen zur Nichtoffenlegung von Missbrauchsfällen.
In katholischen Kirchenverfahren wird die Kirche selbst als „Opfer“ der Straftat betrachtet, nicht die missbrauchte Person, und Betroffene haben oft kein Recht, als Nebenkläger in internen Verfahren aufzutreten. Bischöfe in der Katholischen Kirche waren bis 2019 für Verstöße nicht strafbar.
Die fundamentalen Unterschiede zwischen kirchlichem (kanonischem) und staatlichem (weltlichem) Rechtssystem sind hier besonders hervorzuheben. Kanonische Verfahren sind geheim, priorisieren das „Heil der Seelen“ und sehen andere Strafen vor (keine Haftstrafen, nur Entlassung aus dem Klerikerstand). Die Aussage, dass in kirchlichen Verfahren „das Opfer der mutmaßlichen Straftaten nicht der/die Betroffene sexualisierter Gewalt, sondern die Kirche ist“ , offenbart einen tiefgreifenden konzeptionellen Unterschied.
Dies bedeutet, dass interne kirchliche Prozesse, selbst wenn sie robust erscheinen, aus säkularer Sicht keine vollständige Gerechtigkeit liefern können. Die rechtliche Autonomie der Kirche und ihre interne Fokussierung auf das „Heil der Seelen“ und den institutionellen Ruf haben historisch die Rechte und den Schutz der Betroffenen überlagert.
Dies erfordert stärkere externe rechtliche Mandate und ein klares Verständnis, dass Missbrauch in erster Linie eine Straftat gegen eine Person ist und nicht lediglich ein Verstoß gegen die Kirchenordnung.
Prävention: Zukünftige Maßnahmen und Schutz
Aktuelle Präventionsrahmenwerke
Die EKD und die Diakonie betonen ihre Verantwortung, sexualisierte Gewalt zu verhindern und „sichere und geschützte Räume“ zu schaffen.
Die „Gewaltschutzrichtlinie der EKD“, die im Oktober 2019 verabschiedet wurde, legt einen verbindlichen Regelungsrahmen für alle Landeskirchen fest, der durch landeskirchliche Präventionsgesetze umgesetzt wird. Diese Richtlinie definiert „sexualisierte Gewalt“ weit gefasst, um einen umfassenden Schutz zu gewährleisten.
Wichtige Präventionsmaßnahmen und -strategien
Die Präventionsarbeit umfasst die Förderung von Sensibilität und Aufmerksamkeit sowie konkrete Präventionsstandards. Dies beinhaltet die Stärkung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen durch Information, Beratung und Fortbildung sowie die Förderung einer
„Kultur der Achtsamkeit“. Bis Dezember 2024 hatten 98 % der aktiven Geistlichen in der Nordkirche Schulungen zu diesem sensiblen Thema erhalten.
Eine verpflichtende Meldepflicht für kirchliche Mitarbeitende besteht in der Nordkirche seit 2018. Die EKD verfügt zudem über eine Meldestelle nach dem Hinweisgeberschutzgesetz für anonyme Meldungen. Schutzkonzepte und Selbstverpflichtungen werden umgesetzt, wie die Einführung eines Schutzkonzepts in der Evangelisch-reformierten Kirche und die Verpflichtung von Kirchenbeamten in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg zur Unterzeichnung einer Anti-Missbrauchserklärung.
Die EKD kooperiert mit Fachberatungsstellen wie „Anlaufstelle.help“ und der Fachstelle sexualisierte Gewalt im Kirchenamt der EKD. Die Nordkirche hat ihre Stabsstelle Prävention auf acht Vollzeitstellen aufgestockt. Zudem wurden gezielte Kampagnen gestartet, wie die Präventionskampagne in kirchlichen Kindertagesstätten der Braunschweiger Landeskirche in Zusammenarbeit mit „Hänsel+Gretel“.
Herausforderungen bei der Umsetzung und im Kulturwandel
Trotz dieser Maßnahmen stellte die ForuM-Studie fest, dass der Umgang der EKD mit sexualisierter Gewalt bisher „spät und nicht ausreichend“ war. Der Wandel von Kultur und Selbstverständnis wird als „langfristiges Ziel“ beschrieben, das „beharrliche Auseinandersetzung“ erfordert.
Die EKD hat formale Präventionsrahmenwerke etabliert (Gewaltschutzrichtlinie, Schulungen, Meldepflichten ). Die ForuM-Studie stellt jedoch fest, dass der Umgang mit Missbrauch immer noch „spät und unzureichend“ ist , und dass kultureller Wandel ein „langfristiges Ziel“ ist. Dies deutet auf eine Lücke zwischen der Entwicklung von Richtlinien und ihrer effektiven kulturellen Integration hin.
Formale Regeln sind notwendig, aber unzureichend ohne einen tiefgreifenden Wandel in den institutionellen Werten und den täglichen Praktiken. Die Herausforderung besteht darin, von einer reaktiven Haltung (Reaktion auf Skandale) zu einer wirklich proaktiven Haltung überzugehen, bei der der Schutz in jeden Aspekt des kirchlichen Lebens integriert ist und Missbrauch aktiv verhindert, anstatt ihn nur im Nachhinein zu behandeln.
Dies erfordert kontinuierliche Anstrengungen jenseits der anfänglichen Politikverabschiedung. Die Wirksamkeit der Prävention hängt letztlich von der Fähigkeit der EKD ab, eine echte „Kultur der Achtsamkeit“ und Rechenschaftspflicht auf allen Ebenen zu fördern, nicht nur durch Top-Down-Vorgaben. Diese kulturelle Transformation ist langsam und erfordert kontinuierliches Engagement, was die langfristige Wirkung der aktuellen Maßnahmen ohne fortlaufende externe Kontrolle und interne Hingabe unsicher macht.
Rechtlicher Rahmen für Kinderschutz in Deutschland
Das deutsche Grundgesetz (GG) schützt die elterlichen Rechte (Art. 6) und die Glaubensfreiheit (Art. 4), was religiösen Gemeinschaften den Betrieb von Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ermöglicht.
Diese Rechte sind jedoch nicht schrankenlos gewährleistet. Der Staat hat ein „Wächteramt“ für das Kindeswohl, das als zentrale Norm gilt. Die zunehmende Religionsmündigkeit des Kindes wird dabei berücksichtigt (z.B. ab 14 Jahren Selbstentscheidung über die Religionszugehörigkeit).
Entscheidend ist, dass es im weltlichen Strafrecht keine allgemeine Anzeigepflicht für Kirchen gegenüber staatlichen Behörden bei Fällen sexualisierter Gewalt gibt. Dies bedeutet, dass die Entscheidung, staatliche Behörden einzuschalten, weitgehend bei der Kirche liegt, eine Entscheidung, die historisch oft vom institutionellen Selbsterhalt beeinflusst wurde. Kanonische (kirchliche) Rechtsverfahren sind in der Regel geheim und priorisieren das „Heil der Seelen“ gegenüber der weltlichen Justiz, und Betroffene werden in diesen Verfahren nicht als primäres „Opfer“ betrachtet.
Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat daher
Gesetze in den Bundesländern gefordert, um die Aufarbeitung und den Kinderschutz zu stärken.
Der deutsche Rechtsrahmen gewährt religiösen Institutionen eine erhebliche Autonomie , etabliert aber auch das „Wächteramt“ des Staates. Das Fehlen einer allgemeinen Meldepflicht für Kirchen an staatliche Behörden schafft eine systemische Schwachstelle. Diese rechtliche Landschaft ermöglichte religiösen Institutionen ein Maß an Selbstregulierung, das im Kontext des Missbrauchs historisch zur Vertuschung und Behinderung der weltlichen Justiz führte.
Das Fehlen einer Meldepflicht bedeutet, dass die Entscheidung, staatliche Behörden einzuschalten, weitgehend bei der Kirche liegt – eine Entscheidung, die oft von institutionellem Selbsterhalt beeinflusst wurde. Dies schafft eine systemische Anfälligkeit, bei der der Kinderschutz durch interne kirchliche Prioritäten beeinträchtigt werden kann.
Für einen robusten Kinderschutz muss das Gleichgewicht zwischen religiöser Autonomie und staatlicher Aufsicht neu bewertet werden. Die Forderung nach Landesgesetzen adressiert dies direkt und legt nahe, dass rechtliche Reformen notwendig sind, um sicherzustellen, dass der Kinderschutz eindeutig Vorrang vor internen kirchlichen Doktrinen oder wahrgenommener Autonomie hat, wodurch Schlupflöcher geschlossen werden, die historisch Täter geschützt haben.
Das Präventionskonzept der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB)
Präventionskonzept der ELKB
Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern (ELKB) hat sich verpflichtet, alle Arbeitsbereiche in Kirche und Diakonie auf Risiken zu überprüfen und Vorkehrungen gegen sexualisierte Gewalt zu treffen, um im Bedarfsfall rasch und konsequent handeln zu können.
Die ELKB betont, dass christlicher Glaube und sexualisierte Gewalt unvereinbar sind und verurteilt diese aufs Schärfste. Es sei beschämend, dass Menschen, die Trost und Orientierung suchten, stattdessen ausgenutzt und erniedrigt wurden.
Bis Ende 2025 sollen alle Gemeinden der ELKB Schutzkonzepte gegen sexualisierte Gewalt und Missbrauch erarbeitet haben, wobei ein Schwerpunkt auf Schulungen für Ehren- und Hauptamtliche liegt.
Landesbischof Christian Kopp hob hervor, dass man hohe Standards für wirksame lokale Lösungen anstrebe, auch wenn dies Zeit benötige.
Das Schutzkonzept der ELKB ist nicht nur eine gesetzliche Auflage, sondern auch Ausdruck der Verantwortung der Kirche als Trägerin von Einrichtungen wie der Evangelischen Jugendbildungsstätte (Evang. JuBi), denen ein hohes Vertrauen entgegengebracht wird.
Hauptziel ist es, das Risiko für Missbrauch zu minimieren. Die Ziele des Schutzkonzepts umfassen die Vorbeugung und Verhinderung sexualisierter Gewalt, die Aufklärung von Verdachtsfällen, angemessene Reaktionen, die Gewährung von Hilfe und Unterstützung für Betroffene sowie die Anerkennung und Aufarbeitung. Sexualisierte Gewalt wird dabei weit gefasst als alle Handlungen, die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung darstellen, einschließlich der Ausnutzung von Macht und Abhängigkeit.
Als Teil ihres Konzepts bietet die ELKB verschiedene Anlaufstellen:
Ansprechstelle für Betroffene: Bietet vertrauliche Beratung und Begleitung.
Informationen werden ohne Einwilligung der Betroffenen nicht an Dritte weitergegeben.
Meldestelle für sexualisierte Gewalt: Die zentrale Anlaufstelle für alle Verdachtsfälle und Meldungen sexueller Übergriffe. Sie berät und unterstützt bei der Klärung und begleitet notwendige Maßnahmen.
Anlaufstelle.help: Eine unabhängige und kostenlose Beratungsstelle für Betroffene von sexualisierter Gewalt in Kirche und Diakonie, die anonyme Erstberatung, professionelle Hilfe und Vermittlung zu weiteren Angeboten bietet.
Alle Mitarbeitenden der ELKB sind angehalten, einen Verhaltenskodex einzuhalten, sich zum Thema Prävention sexualisierter Gewalt schulen zu lassen und zu wissen, wie bei einem Verdacht zu handeln ist. Gäste und Teilnehmende werden aktiv auf die Kontaktmöglichkeiten zu Vertrauenspersonen und Präventionsbeauftragten hingewiesen.
Gesamtbetrachtung der ELKB
Die ELKB zeigt ein klares Bekenntnis zur Prävention und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt, indem sie die Unvereinbarkeit mit dem christlichen Glauben betont und sich zur Schaffung sicherer Orte verpflichtet.
Die Einführung von Schutzkonzepten in allen Gemeinden bis Ende 2025 und die Betonung von Schulungen für Ehren- und Hauptamtliche sind konkrete Schritte zur Risikominimierung und zur Förderung einer Kultur der Achtsamkeit. Die Bereitstellung verschiedener Anlaufstellen, darunter eine Ansprechstelle für Betroffene, eine Meldestelle und die unabhängige Anlaufstelle.help, unterstreicht den Willen, Betroffenen Unterstützung und einen vertraulichen Rahmen zu bieten.
Die Verpflichtung aller Mitarbeitenden zur Einhaltung eines Verhaltenskodex und zur Schulung zeigt einen umfassenden Ansatz zur Sensibilisierung und zum Handeln bei Verdachtsfällen.
Die ELKB positioniert sich damit als eine Landeskirche, die die Herausforderungen der sexualisierten Gewalt aktiv angeht und versucht, durch strukturelle Maßnahmen und eine klare Haltung Vertrauen wiederherzustellen und zukünftigen Missbrauch zu verhindern.
Die Zukunft und die zeitnahe praktische Umsetzung wird zeigen, wie ernsthaft dies die Kirche als Institution und die Gemeinden und Einrichtungen vor Ort ernst nehmen.
Dies ist auch der existentielle Maßstab an dem sich alle Institutionen innerhalb der Kirche messen lassen müssen.
Schlußbemerkung des Autors:
Der grundlegende Gedanke des Confiteors, eines zentralen Bestandteils der lutherischen Liturgie, ist das demütige und gemeinschaftliche Sündenbekenntnis. Es dient als eine tiefgreifende Erinnerung daran, dass alle Menschen, ungeachtet ihrer Stellung, unvollkommen sind und der Gnade Gottes bedürfen.
Dieses Verständnis ist entscheidend, da es der Gefahr der Selbstgerechtigkeit entgegenwirkt, vor der die Bibel eindringlich warnt, wie im Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner. Es geht darum, die eigene Fehlbarkeit anzuerkennen und nicht aus einer Position moralischer Überlegenheit zu urteilen, sondern Mitgefühl zu zeigen.
In diesem Sinne ist es dem Autor ein Anliegen zu betonen, dass die vorliegende Analyse nicht aus einer Haltung der moralischen Unfehlbarkeit verfasst wurde, sondern aus der tiefen Überzeugung, dass eine umfassende Aufarbeitung und wirksame Prävention nur durch ehrliche Selbstreflexion und Demut innerhalb der Institution gelingen können.
Als Mitglied und Lektor innerhalb der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB) ist der Autor Teil der Gemeinschaft, die sich diesen komplexen Herausforderungen mit stellt.
Glossar:
Anerkennungsleistungen
Finanzielle oder symbolische Leistungen, die Betroffenen sexualisierter Gewalt von kirchlichen Institutionen zugesprochen werden, ohne dass ein zivil- oder strafrechtliches Urteil vorliegen muss. Sie sollen Ausdruck institutioneller Verantwortung und moralischer Wiedergutmachung sein. Im Artikel wird kritisch auf die Diskrepanz zwischen EKD und katholischer Kirche hingewiesen, sowohl hinsichtlich der Höhe als auch der Einheitlichkeit dieser Zahlungen.
Aufarbeitung
Der vielschichtige Prozess der rückblickenden Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt. Umfasst die Analyse von Ursachen, strukturellen Versäumnissen, Verantwortlichkeiten sowie die Entwicklung von Reform- und Präventionsstrategien. Im Artikel wird die EKD für eine oft oberflächliche Gleichsetzung von „Aufdeckung“ mit echter „Aufarbeitung“ kritisiert.
Betroffene
Menschen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben – im kirchlichen Kontext meist in institutionellen Abhängigkeitsverhältnissen. Der Artikel betont die Notwendigkeit, Betroffene nicht nur als Zeug:innen oder Fallzahlen zu sehen, sondern ihre Perspektiven und Rechte in den Mittelpunkt der Aufarbeitung und Prävention zu stellen.
Confiteor
Lateinischer Begriff für ein gemeinschaftliches Sündenbekenntnis in der christlichen Liturgie. Im lutherischen Gottesdienst dient es der bewussten Selbstvergewisserung menschlicher Fehlbarkeit. Der Artikel nutzt das Confiteor als theologischen Anker für die Haltung von Demut und ehrlicher Selbstreflexion im Umgang mit Schuld und Aufarbeitung.
Diakonie
Sozialer Dienst der Evangelischen Kirche. Betreiberin von Kitas, Heimen, Beratungsstellen u. v. m. Im Artikel wird deutlich, dass sexualisierte Gewalt auch in diakonischen Einrichtungen stattfand – mit strukturellen Parallelen zur EKD.
Dunkelfeld
Begriff aus der Kriminologie: bezeichnet Straftaten, die nicht offiziell bekannt oder angezeigt wurden. Im Artikel wird das Dunkelfeld als Indikator systemischer Verdrängung und mangelhafter Aktenführung innerhalb der EKD diskutiert. Es verweist auf ein schwer quantifizierbares, aber mutmaßlich weitreichendes Ausmaß nicht dokumentierter Fälle.
EKD (Evangelische Kirche in Deutschland)
Dachorganisation von 20 Landeskirchen mit theologischer, organisatorischer und rechtlicher Eigenständigkeit. Im Text steht die EKD im Zentrum der Kritik für verspätete und strukturell unzureichende Reaktionen auf Missbrauchsfälle. Die ForuM-Studie ist das erste umfassende Instrument zur systematischen Untersuchung.
ForuM-Studie
Unabhängige wissenschaftliche Studie zur Untersuchung sexualisierter Gewalt in EKD und Diakonie (2021–2024). Sie bildet die Grundlage für viele der im Artikel präsentierten Zahlen und Bewertungen. Sie analysiert Täterstrukturen, institutionelle Praktiken und bietet Handlungsempfehlungen.
Grenzverletzung
Verhaltensweisen, die psychische, körperliche oder soziale Grenzen verletzen – auch unterhalb strafrechtlicher Relevanz. In der kirchlichen Praxis (z. B. Seelsorge, Jugendarbeit) sind solche Grenzverletzungen häufig Vorboten sexualisierter Gewalt. Der Artikel benennt die unklare Grenzethik als strukturelles Problem.
Institutionelle Verantwortung
Verpflichtung einer Organisation, systemisches Versagen anzuerkennen, Transparenz herzustellen und Maßnahmen zur Prävention und Wiedergutmachung umzusetzen. Der Text plädiert für eine echte Übernahme dieser Verantwortung – jenseits symbolischer Gesten oder bloßer Selbstdarstellung.
Kanonisches Recht
Kircheneigenes Rechtssystem (besonders der katholischen Kirche). Der Artikel kontrastiert dies mit dem staatlichen Recht und verweist darauf, dass kirchliche Verfahren häufig das institutionelle „Heil der Seelen“ über das Leid der Opfer stellen – mit problematischer Wirkung auf Gerechtigkeit und Aufarbeitung.
Kinderschutz
Gesamtheit aller rechtlichen, institutionellen und gesellschaftlichen Maßnahmen zur Verhinderung von Kindeswohlgefährdung, insbesondere sexualisierter Gewalt. Der Artikel diskutiert die Defizite und Lücken im staatlich-kirchlichen Zusammenspiel und fordert verbindlichere gesetzliche Rahmenbedingungen.
Landeskirche
Regionale Gliederung innerhalb der EKD mit eigenständigen Zuständigkeiten für Prävention, Disziplinarrecht und Aufarbeitung. Der Text kritisiert den „Flickenteppich“ uneinheitlicher Umsetzungen und Schutzkonzepte zwischen den Landeskirchen.
Liturgie
Die gottesdienstliche Ordnung und Form christlicher Gemeinschaft. Im Artikel dient sie als theologischer Referenzrahmen für kirchliches Selbstverständnis und Verantwortung – insbesondere über das Sündenbekenntnis (Confiteor).
Machtungleichgewicht
Hierarchische Struktur oder asymmetrische Beziehung, die Ausbeutung oder Kontrolle begünstigt. Im kirchlichen Kontext begünstigt durch Seelsorgeverhältnisse, Abhängigkeitsstrukturen oder spirituelle Autorität. Ein zentrales Element in der Analyse des Artikels.
Missbrauch
Im Artikel synonym mit „sexualisierter Gewalt“. Beschreibt den gezielten Einsatz von Macht zur Ausnutzung oder Verletzung der sexuellen Integrität eines Menschen. Der Text arbeitet heraus, dass Missbrauch systemisch eingebettet war – nicht nur individuelles Versagen.
Prävention
Vorbeugende Maßnahmen zur Verhinderung von Missbrauch, etwa Schulungen, Verhaltensregeln, Meldepflichten oder institutionelle Schutzkonzepte. Der Text unterscheidet zwischen formalen Rahmenwerken und echter „Kultur der Achtsamkeit“.
Rechenschaftspflicht
Verpflichtung zur Offenlegung und Verantwortungsübernahme für Fehlverhalten. Der Text fordert eine externe Kontrolle kirchlicher Aufarbeitungsprozesse und kritisiert strukturelle Intransparenz und institutionelles Eigeninteresse.
Schuld und Vergebung
Kernbegriffe christlicher Theologie. Der Artikel warnt vor ihrer missbräuchlichen Anwendung zur Bagatellisierung von Taten oder zur Disziplinierung Betroffener – insbesondere wenn Täter zu schnell vergeben wird, ohne Rechenschaft.
Schutzkonzept
Institutionell verankertes Maßnahmenbündel zur Prävention sexualisierter Gewalt. Muss u. a. Risikoanalysen, Schulungen, Meldeketten, Umgang mit Verdachtsfällen und Anlaufstellen enthalten. Der Artikel bewertet Schutzkonzepte als notwendig, aber oft zu formell oder inkonsequent umgesetzt.
Seelsorgegeheimnis
Verpflichtung zur Vertraulichkeit im seelsorgerlichen Gespräch. Im Artikel kritisch diskutiert, da es häufig als Vorwand diente, Missbrauch nicht zu melden – selbst bei Entbindung von der Schweigepflicht.
Strukturelles Versagen
Organisatorisches, kulturelles oder rechtliches Systemversagen, das Missbrauch begünstigt oder seine Aufdeckung verhindert. Der Artikel macht strukturelles Versagen zur zentralen These: Die EKD habe institutionelle Schutzmechanismen über den Schutz von Betroffenen gestellt.
Täterstrategie
Systematische Verhaltensweise, mit der Täter:innen Vertrauen erschleichen, Kontrolle ausüben und Aufdeckung verhindern. In kirchlichen Kontexten oft religiös oder seelsorgerlich legitimiert. Der Artikel zeigt, wie solche Strategien institutionell begünstigt wurden.
Traumafolgen
Langfristige körperliche, psychische, soziale und spirituelle Schäden, die aus Missbrauch resultieren. Der Artikel verweist auf schwere biografische, oft irreversible Auswirkungen bei Betroffenen, auch im Glaubensleben.
Verdrängung
Psychoanalytischer Begriff für den Ausschluss traumatischer Inhalte aus dem Bewusstsein. Der Text überträgt Freuds Theorie auf die kollektive Ebene: Die Kirche habe institutionelles Wissen verdrängt – mit „deformierter Rückkehr“ in Form medialer Skandale und verzögerter Aufarbeitung.
Verhaltenskodex
Verbindliche Leitlinie für Mitarbeitende in kirchlichen Kontexten. Legt Grenzen, Pflichten und Reaktionsweisen bei Verdachtsfällen fest. Der Artikel nennt solche Kodizes als Teil formaler Präventionsmaßnahmen, deren Wirkung jedoch von institutioneller Haltung abhängig bleibt.
Vertuschung
Aktive oder passive Nichtoffenlegung von Missbrauchsfällen – z. B. durch Aktenvernichtung, Täterversetzungen oder institutionelles Schweigen. Der Artikel dokumentiert zahlreiche Formen der Vertuschung als integralen Bestandteil kirchlicher Organisationskultur.
Wächteramt
Verfassungsrechtliche Pflicht des Staates zum Schutz von Kindern (Art. 6 GG). Der Artikel fordert eine Neubewertung dieses Prinzips gegenüber kirchlicher Autonomie – z. B. durch gesetzliche Meldepflichten und externe Kontrolle.
Quellen
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