top of page

EU-Überwachungsmaßnahmen: Zwischen Sicherheitsbedürfnissen und Grundrechtsfragen

  • Autorenbild: Richard Krauss
    Richard Krauss
  • 22. Juni 2024
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 30. Juli


Richard Krauss - 15.07.2025 (überarbeitet)


Während Europa an digitalen Lösungen für mehr Sicherheit arbeitet, geraten elementare Grundrechte zunehmend unter Druck. Biometrische Systeme, KI-gestützte Überwachung und automatisierte Entscheidungen sollen Terror, Migration und Kriminalität eindämmen – doch zu welchem Preis? Ein Blick auf aktuelle Entwicklungen zeigt: Die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit steht auf dem Spiel.


ree

Sicherheit gegen Freiheit?


Angesichts wachsender Bedrohungen durch Cyberangriffe, hybride Kriegsführung und irreguläre Migrationsströme rüstet sich die Europäische Union auch digital auf. Neue Verordnungen, technische Systeme und legislative Pakete sollen die Sicherheit ihrer Bürgerinnen und Bürger gewährleisten. Doch das wachsende Arsenal an Überwachungsmaßnahmen wirft eine grundsätzliche Frage auf: Wie viel Kontrolle verträgt die Freiheit?


Zivilgesellschaftliche Organisationen, Datenschutzexpert:innen und EU-Parlamentarier:innen warnen vor einem gefährlichen Ungleichgewicht. Denn das Versprechen der Sicherheit droht, an den Grundpfeilern der Rechtsstaatlichkeit zu rütteln – etwa beim Schutz von Daten, bei der Wahrung der Pressefreiheit oder der Einhaltung menschenrechtlicher Standards.


Kontrolle an den Außengrenzen

Ein zentrales Vorhaben ist das neue EU-Grenz-Screening-System. Es sieht vor, dass Drittstaatsangehörige an den Außengrenzen systematisch überprüft werden – mithilfe biometrischer Daten, KI-gestützter Risikoprofile und automatisierter Entscheidungssysteme. Letztere treffen auf Basis vordefinierter Kriterien eigenständig Entscheidungen, zum Beispiel darüber, ob eine Person als risikobehaftet gilt oder nicht – oft, ohne dass ein Mensch die Einschätzung nachvollziehen kann.


Um Missbrauch vorzubeugen, will die Kommission unabhängige Kontrollinstanzen einrichten, wie sie in den sogenannten Pariser und Venedig-Grundsätzen formuliert sind. Die Grundrechteagentur der EU (FRA) fordert bereits seit Jahren mehr Transparenz und gerichtliche Kontrollmechanismen bei solchen Verfahren. Doch während die Technik fortschreitet, hinken die Schutzmechanismen oft hinterher. Was fehlt, ist ein europaweit verbindlicher Rahmen: unabhängige Beschwerdeinstanzen, regelmäßige Evaluationen und eine verpflichtende Aufsicht durch nationale Datenschutzbehörden.


Künstliche Intelligenz, echte Risiken

An den EU-Grenzen sind längst Systeme im Einsatz, die mit Künstlicher Intelligenz arbeiten. Diese sollen beispielsweise erkennen, ob eine Person „auffällig“ ist – etwa durch ihre Mimik, Sprache oder Körpersprache. Auch sogenannte Emotionserkennung wird getestet: Software analysiert dabei Gesichtsausdrücke oder Stimmlagen, um Rückschlüsse auf das emotionale Befinden oder gar die Glaubwürdigkeit einer Person zu ziehen. Solche Technologien sind nicht nur fehleranfällig, sondern auch ethisch hoch umstritten.


In Deutschland wurde der Einsatz von Echtzeit-Gesichtserkennung kürzlich begrenzt, die nachträgliche Auswertung bleibt jedoch erlaubt. Datenschützer:innen kritisieren diese Regelung als halben Schritt. Denn KI-Systeme lassen sich nicht allein durch technische Standards kontrollieren. Sie brauchen klare gesetzliche Schranken – und Menschen, die sie kontrollieren.


Migrationsabwehr mit fragwürdigen Mitteln

Besonders deutlich wird der Zielkonflikt an den Außengrenzen der EU – etwa in Nordafrika oder am Balkan. Die Union finanziert dort Überwachungstechnologie mit Hunderten Millionen Euro: mobile Kameras, Drohnen, Grenzsensorik, IMSI-Catcher zur Mobilfunküberwachung. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International warnen vor einer digitalen Abschottungspolitik, die fundamentale Rechte untergräbt.


Automatisiertes Profiling – also das Erstellen von Risikoprofilen auf Basis persönlicher Daten – sowie KI-gestützte Risikobewertungen treffen vor allem Schutzsuchende, die kaum Möglichkeiten haben, sich dagegen zu wehren. Die EU-Bürgerbeauftragte kritisierte unlängst, dass viele dieser Maßnahmen ohne ausreichende Folgenabschätzung eingeführt wurden. Die Devise „Sicherheit zuerst“ darf nicht zu einem Blankoscheck für invasive Überwachung werden.


Journalismus unter Verdacht

Besorgniserregend ist auch, wie einige Mitgliedsstaaten mit kritischer Berichterstattung umgehen. Frankreich, Ungarn und weitere Regierungen wollen künftig den Einsatz von Spähsoftware gegen Journalist:innen ermöglichen – etwa mithilfe sogenannter Staatstrojaner, also Programmen, die heimlich Geräte infiltrieren und Kommunikation überwachen. Die Berufung auf „nationale Sicherheit“ soll dabei reichen, um die Kontrolle zu umgehen.


Das Europäische Parlament reagiert mit Widerstand. Der Innenausschuss (LIBE) fordert ein generelles Verbot solcher Überwachungsmaßnahmen im geplanten Medienfreiheitsgesetz. Denn wo Journalist:innen ausspioniert werden, ist die Pressefreiheit in Gefahr – und mit ihr die demokratische Öffentlichkeit. Ausnahmen, so die Abgeordneten, dürfe es nur unter strengster richterlicher Kontrolle geben – wenn überhaupt.


Eine Frage des Gleichgewichts

Die EU bewegt sich derzeit auf einem schmalen Grat. Die Herausforderungen, vor denen sie steht, sind real – ebenso wie der Wunsch nach mehr Sicherheit. Doch Sicherheit, die auf Kosten von Freiheit, Transparenz und Grundrechten erkauft wird, ist trügerisch.


Eine glaubwürdige Sicherheitspolitik muss deshalb mehr leisten als technische Effizienz: Sie muss durch demokratische Verfahren legitimiert, von unabhängigen Instanzen kontrolliert und am Maßstab der Verhältnismäßigkeit gemessen werden. Denn wer Grundrechte systematisch opfert, wird am Ende nicht sicherer, sondern verletzlicher. Die entscheidende Frage lautet daher nicht nur: Wie schützt man Europa – sondern auch: Wovor?


Glossar

Begriff

Bedeutung

Gesichtserkennung

Technologische Identifikation von Personen durch Analyse biometrischer Merkmale.

Chat-Scanning

Automatisiertes Durchsuchen privater Kommunikation auf verdächtige Inhalte.

Vorratsdatenspeicherung

Speicherung von Kommunikationsdaten ohne konkreten Anlass, meist zu Ermittlungszwecken.

Client-Side-Scanning

Technik, bei der Daten schon auf Endgeräten durchsucht werden, bevor sie verschickt werden.

Verhältnismäßigkeit

Prinzip, dass staatliche Maßnahmen geeignet, erforderlich und angemessen sein müssen.

Quellen (zur Transparenz)

  • EU-Kommission: Gesetzesvorschlag zur Chatkontrolle, 2022–2024.

  • Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Vorratsdatenspeicherung, 2022–2024.

  • Stellungnahmen des Europäischen Datenschutzausschusses (EDSA) und der Europäischen Datenschutzbeauftragten (EDSB).

  • Überblick zum EU AI Act – Gesetz zur Regulierung künstlicher Intelligenz, 2023–2025.

  • Artikel der Europäischen Grundrechteagentur zu biometrischer Überwachung und Gesichtserkennung.

  • Juristische Analysen und Presseberichte zu Client-Side-Scanning.

  • Kritische Einschätzungen von Bürgerrechtsorganisationen wie digitalcourage, EDRi und netzpolitik.org.


Comments


bottom of page