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AutorenbildRichard Krauss

Protestantismus 2024 - „sola scriptura, sola fide, sola gratia“ ein Plädoyer für „sola Zeitgeist?“ – Wortklaubereien am Sonntag-Morgen

Aktualisiert: 23. Juli

Der moderne Protestantismus ruht auf den Fundamenten der Reformation, die unter anderem durch Luther, Zwingli und Calvin gelegt wurden. Diese wurden in ihrer zeitlose Bedeutung bewahrt und wurden zum Beispiel durch theologische Denker wie Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer weiterentwickelt.

(Bild: Evg. Luth. Auferstehungskirche Schwebheim, Unterfranken)


Der „heutige“ Protestantismus – wenn es denn einen solchen gibt, - beruht auf den Prinzipien der Reformation „sola scriptura, sola fide und sola gratia“ sowie dem Priestertum aller Gläubigen.


Barth betonte die zentrale Rolle des Wortes Gottes, entwickelte die dialektische Theologie – eine Theologie, die die Spannung und den Dialog zwischen Gott und Mensch, Sünde und Gnade betont – und stellte Christus in den Mittelpunkt seines Denkens. Bonhoeffer hingegen fokussierte sich auf die radikale Nachfolge Jesu, das Konzept eines religionslosen Christentums und die Ethik der Verantwortung.


Sola scriptura bedeutet "allein die Schrift" und betont, dass die Bibel die einzige Quelle göttlicher Offenbarung und Autorität ist.


Sola fide heißt "allein durch den Glauben" und besagt, dass der Mensch nur durch den Glauben an Jesus Christus und nicht durch eigene Werke gerechtfertigt wird.


Sola gratia bedeutet "allein durch die Gnade" und unterstreicht, dass die Erlösung allein ein Geschenk Gottes ist, das sich der Mensch nicht verdienen kann.


Das Priestertum aller Gläubigen, dass jeder Gläubige direkten Zugang zu Gott hat, ohne die Notwendigkeit eines vermittelnden Priesters. Dies stärkt die individuelle Verantwortung und die persönliche Beziehung zu Gott.


Das Priestertum aller Gläubigen umfasst auch die Möglichkeit der Laien, die Bibel selbst zu lesen und zu interpretieren sowie das Evangelium zu verkünden, was die Bedeutung und das Engagement jedes Einzelnen in der Glaubensgemeinschaft betont.


Gibt es einen Widerspruch zwischen dem „Priestertum aller Gläubigen“ und der theologisch akademischen Wächterfunktion?  


Die Argumentation zeigt in der Tat einen alten Konflikt zwischen akademischen Theologen und Laien, widerspricht jedoch nicht dem Prinzip des Priestertums aller Gläubigen. Sie betont vielmehr die Spannungen und Herausforderungen in der Praxis der Bibelauslegung und theologischen Reflexion.


Akademische Theologen haben oft eine umfassende Ausbildung und verwenden spezialisierte Methoden wie die historisch-kritische Methode zur Bibelinterpretation. Sie sehen sich als Hüter der kirchlichen Lehre und bemühen sich um eine kohärente und konsistente Interpretation der Bibel.


Eine kohärente und konsistente Interpretation der Bibel bedeutet, die Heilige Schrift in einer Weise zu verstehen und zu erklären, die sowohl innerlich widerspruchsfrei als auch mit den Grundprinzipien und Lehren der gesamten Bibel im Einklang steht.


Kohärenz bezieht sich dabei auf die logische Zusammenhängigkeit innerhalb des Textes: Die einzelnen Teile der Bibel sollten so interpretiert werden, dass sie ein stimmiges Gesamtbild ergeben und keine inneren Widersprüche aufweisen.


Konsistenz bedeutet, dass die Interpretation nicht nur an einer Stelle, sondern durchgängig in allen Teilen der Bibel einheitlich angewendet wird. Dies erfordert eine sorgfältige Berücksichtigung des historischen, kulturellen und literarischen Kontextes sowie eine Beachtung der theologischen und ethischen Grundsätze, die die Bibel vermittelt.

Ziel ist es, eine Auslegung zu finden, die die verschiedenen Bücher und Passagen der Bibel in harmonischer Weise miteinander verbindet und ein umfassendes, verständliches und widerspruchsfreies Bild der biblischen Botschaft vermittelt.


Im Gegensatz dazu betont das Priestertum aller Gläubigen, dass jeder Gläubige direkten Zugang zur Bibel hat und sie ohne Vermittlung durch eine theologische Elite lesen und interpretieren kann s.o.. Laieninterpretationen sind oft stark von ihrem kulturellen und historischen Kontext geprägt, was das Evangelium in ihrer Lebenswelt relevant macht.


Der Konflikt entsteht, weil akademische Theologen und Laien unterschiedliche Perspektiven und Herangehensweisen haben. Akademische Theologen können die Gefahr sehen, dass Laieninterpretationen durch den Zeitgeist verfälscht werden, während Laien ihre eigenen Interpretationen als authentisch und unmittelbar erleben.


Die Einbeziehung des Zeitgeistes in die theologische Verkündigung ist komplex. Der Zeitgeist, also die vorherrschenden Denk- und Verhaltensweisen einer Epoche, beeinflusst die Interpretation biblischer Texte. Während aktuelle Themen die Relevanz der Verkündigung erhöhen, besteht die Gefahr, zeitlose biblische Prinzipien zu verzerren.


Eine Balance zwischen den Einflüssen des Zeitgeistes und der Bewahrung grundlegender biblischer Wahrheiten ist notwendig. Dies erfordert eine reflektierte theologische Herangehensweise, die historische und kulturelle Kontexte berücksichtigt und gleichzeitig die ewigen Prinzipien der Bibel betont.


Zeitlose biblische Wahrheiten sind unveränderliche Grundsätze wie Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Ehrlichkeit, die unabhängig von kulturellen oder historischen Veränderungen gültig bleiben. Diese lassen sich durch ihre konstante Präsenz in biblischen Schriften belegen.


In Predigten können Menschen im Verkündigungsdienst diese Wahrheiten durch biblische Geschichten und aktuelle Beispiele verdeutlichen, wodurch ihre Relevanz und Gültigkeit im heutigen Leben unterstrichen wird. Kritische Reflexion und pastorale Sensibilität sind entscheidend, um die Botschaft der Bibel sowohl relevant als auch glaubwürdig zu vermitteln, ohne die grundlegenden Wahrheiten zu kompromittieren.


Pastorale Sensibilität bezeichnet die Fähigkeit eines Seelsorgers oder Geistlichen, einfühlsam und aufmerksam auf die Bedürfnisse, Sorgen und Lebenssituationen der Menschen, die er betreut, einzugehen. Diese Sensibilität umfasst ein tiefes Verständnis und Mitgefühl für die individuellen und gemeinschaftlichen Herausforderungen, mit denen Menschen konfrontiert sind, und die Fähigkeit, entsprechende geistliche und praktische Unterstützung zu bieten.


Wie lässt sich der Spannungsbogen zwischenzeitlosen biblischen Wahrheiten im Kontext zu kohärente und konsistente Interpretation der Bibel einerseits und der gelegentliche Vorwurf des Zeitgeistes auflösen?


Das Dilemma zwischen „biblischen Wahrheiten“ ,„traditionellen Werten“ im Protestantismus entsteht durch die Spannung zwischen zeitlosen, universellen Prinzipien und den historisch bedingten Auslegungen und Praktiken, die sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt haben.

Dieses Dilemma entsteht, wenn sich traditionelle menschlich definierte Werte, die einst aus der Interpretation biblischer Wahrheiten hervorgingen, nicht mehr mit den modernen gesellschaftlichen Normen und Lebensrealitäten vereinbaren lassen.


Biblische Wahrheiten sind die grundlegenden, als göttlich inspiriert und unveränderlich geltenden Lehren der Bibel. Sie sind universell und unabhängig von kulturellen oder historischen Kontexten gültig. Beispiele hierfür sind die Gebote der Nächstenliebe, die Zehn Gebote und die Bergpredigt.


Traditionelle Werte hingegen sind interpretationsabhängig und stark von der jeweiligen historischen und kulturellen Epoche beeinflusst. Sie entstehen durch die spezifische Anwendung und Auslegung biblischer Wahrheiten in einem bestimmten Kontext und können sich über die Zeit verändern, da sie an die kulturellen und gesellschaftlichen Normen ihrer Zeit angepasst sind.


Der Zeitgeist bezieht sich also auf den vorherrschenden Gedankengang, die Ideen und die allgemeine geistige Haltung einer bestimmten Epoche oder Zeitperiode. Der Zeitgeist ist folgerichtig die Gesamtheit der typischen Denk- und Fühlweise einer bestimmten Zeit, während traditionelle Werte eher als Bestandteile oder Ausdrucksformen des Zeitgeistes betrachtet werden können, die je nach Epoche variieren.


Im Jahr 2024 ist der Einfluss des Zeitgeists auf den Protestantismus wahrnehmbar.  Diese Fragen sind zentral für das Verständnis der aktuellen theologischen Debatten. Die Bedenken der Kritiker könnten in der Sorge verwurzelt sein, dass moderne Interpretationen und Anpassungen der traditionellen Lehren (Stichwort: Biblische Wahrheiten) zu einer Erosion der ursprünglichen theologischen Prinzipien führen könnten.


Diese Angst vor Veränderung spiegelt oft eine tiefere Furcht wider, dass die Kirche ihre moralische Autorität und ihren klaren ethischen Kompass verlieren könnte. Angesichts der eklatanten Missbrauchsfälle in allen Kirchen stellt sich jedoch die Frage, ob die Kirche heute noch als moralische Autorität argumentativ vertretbar ist. Der moralische Anspruch der Kirche hat durch diese Skandale erheblichen Schaden genommen.


Es ist daher wichtig, zwischen der institutionellen Kirche und den theologischen Prinzipien zu unterscheiden, die sie vertritt.


Während die Institution als solche in ihrer moralischen Autorität erschüttert ist, bleiben die ethischen und theologischen Prinzipien von grundsätzlicher Bedeutung.

Diese Prinzipien fordern die Kirche auf, sich ständig zu reflektieren und zu erneuern, um den Glauben authentisch und glaubwürdig zu leben.


Gelegentlich argumentieren auch Theologen, dass die Anpassung an den Zeitgeist nicht zwangsläufig eine Verwässerung der Glaubensinhalte bedeutet, sondern eine notwendige Evolution darstellt, um den Glauben in einer sich wandelnden Welt relevant zu halten.


Anna-Nicole Heinrich, Präses der EKD-Synode, setzt sich entschieden für Menschenrechte und die Unterstützung von Geflüchteten ein. Bei einem Besuch an der EU-Außengrenze kritisierte sie die menschenunwürdigen Zustände in den Flüchtlingslagern und forderte eine humanere Politik. Ihre Stellungnahmen verdeutlichen das Engagement der EKD in aktuellen gesellschaftlichen Fragen und zeigen, wie die Kirche ihre traditionelle Rolle als moralische Instanz bewahrt, indem sie sich aktiv in soziale und politische Debatten einbringt auch auf die Gefahr hin gesellschaftlich als „Gutmensch“ diskreditiert zu werden.


Heinrichs Positionen verdeutlichen, dass die Kirche auch im 21. Jahrhundert eine wichtige Stimme in ethischen und sozialen Fragen ist und den Zeitgeist als Chance nutzt, um die christliche Botschaft in moderne Kontexte zu übertragen.


Petra Bahr, Mitglied des Deutschen Ethikrats, unterstreicht die Bedeutung ethischer Reflexion und des Dialogs in der Auseinandersetzung mit bioethischen und medizinischen Fragen. Ihre Arbeit im Ethikrat und ihre theologischen Stellungnahmen verdeutlichen, dass die Kirche aktiv danach strebt, traditionelle Werte in die Diskussion über aktuelle gesellschaftliche und wissenschaftliche Herausforderungen einzubringen.  

Die Diskussion um den Zeitgeist und die Bewahrung traditioneller Werte im Protestantismus sollte nicht ausschließlich historische und kulturelle Kontexte einbeziehen, sondern auch die Bedürfnisse und Herausforderungen der gegenwärtigen und zukünftigen Generationen berücksichtigen.


Biblische Wahrheiten bieten unveränderliche Prinzipien, doch ist es von entscheidender Bedeutung, aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen zu integrieren, um den Glauben relevant und lebendig zu halten. Denn Menschen, die heute leben, prägen den zukünftigen historischen Kontext.


Ein ausgewogener Ansatz, der sowohl die Tradition als auch die modernen Realitäten und zukünftigen Entwicklungen berücksichtigt, ist daher unerlässlich. Offener Dialog und kontinuierliche Reflexion innerhalb der evangelischen Kirche sind notwendig, um den Glauben authentisch und ansprechend für alle Generationen in ihrer vielfältigen Lebenswirklichkeit abzubilden und zu bewahren.


Schlussbemerkung: Diese „Wortglaubereien am Sonntag-Morgen“ erheben nicht den Anspruch auf theologische Relevanz oder Vollständigkeit, sie sind vielmehr punktuelle Betrachtungsweisen zu einem Thema im Kontext der aktuellen Diskussion und persönlich geführten Gesprächen. Bleiben sie wohlbehütet.


(1. Petrus 2,9; Offenbarung 1,6; 2. Timotheus 3,16-17; 1. Korinther 9,19-23; Jesaja 40,8; Micha 6,8; Jakobus 1,27)

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