top of page

Wirtschaftliche Interessen und politische Einflussnahme
Beispiele für gezieltes Nudging durch Lobbyverbände und Unternehmen

Richard Krauss

26. Juni 2025

Ethische Debatte und regulatorische Perspektiven

Nudging ist seit der Veröffentlichung des Konzepts durch Richard Thaler und Cass Sunstein im Jahr 2008 Gegenstand fachlicher und gesellschaftlicher Diskussionen. Das Prinzip beschreibt gezielte Veränderungen in der Struktur von Entscheidungssituationen, mit dem Ziel, das Verhalten von Individuen in vorhersehbarer Weise zu beeinflussen, ohne deren Wahlfreiheit aufzuheben. In den vergangenen Jahren hat sich Nudging als Strategie in Politik, Wissenschaft und Praxis etabliert.


Regierungen, Unternehmen und Organisationen nutzen Nudges, um in Bereichen wie Gesundheit, Nachhaltigkeit, Konsum und politischer Kommunikation Verhaltensänderungen zu bewirken.


In Deutschland ist Nudging institutionell verankert: Die Bundesregierung hat mit der Arbeitsgruppe „Wirksam regieren“ verhaltenswissenschaftliche Expertise in politische Entscheidungsprozesse integriert. In der Europäischen Union existiert das Competence Centre on Behavioral Insights, das Forschungsergebnisse in politische Maßnahmen übersetzt. Das Vereinigte Königreich betreibt mit dem Behavioural Insights Team eine staatliche Nudge-Unit, die direkt an politische Prozesse angebunden ist.


Die öffentliche und wissenschaftliche Debatte zu Nudging konzentriert sich vor allem auf politische Interventionen in den Bereichen Gesundheit, Umwelt und prosoziales Verhalten. Empirische Studien zeigen, dass Nudges etwa zur Förderung von Impfungen, zur Reduktion von Plastikmüll oder zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie beitragen können. Auch in der politischen Online-Kommunikation, etwa im Bundestagswahlkampf 2021, wurden Nudging-Strategien gezielt eingesetzt, um Wahlentscheidungen zu beeinflussen.


Gleichzeitig bleibt Nudging umstritten. Kritiker verweisen auf Risiken für die Autonomie der Bürger, warnen vor Intransparenz und Manipulation und fordern eine ethische und verfassungsrechtliche Prüfung jeder Maßnahme. Die Diskussion um Nudging ist damit Teil aktueller Diskurse über Steuerung, Legitimation und Verantwortung in modernen Gesellschaften.


Nudging ist längst Teil politischer und wirtschaftlicher Steuerung. Die Methode beeinflusst Entscheidungen, ohne Wahlfreiheit formal einzuschränken. Beispiele aus Politik, Wirtschaft und Alltag zeigen, wie subtil und wirksam Nudges eingesetzt werden – oft zum Nutzen der Allgemeinheit, zunehmend aber auch gezielt zur Durchsetzung von Einzelinteressen. Die folgende Analyse beleuchtet die wichtigsten Mechanismen und illustriert sie mit konkreten Beispielen.


Politische Nudges: Von der Organspende bis zur Altersvorsorge

Ein klassisches Beispiel für staatlich eingesetztes Nudging ist die Organspende-Regelung. In Deutschland und Dänemark gilt das Opt-In-Prinzip: Nur wer aktiv zustimmt, wird Organspender. In Österreich oder Belgien hingegen ist jeder Bürger automatisch Organspender, es sei denn, er widerspricht ausdrücklich (Opt-Out). Studien zeigen, dass die Spenderquote in Opt-Out-Ländern deutlich höher ist. Der Default-Effekt wirkt stark – viele Menschen bleiben bei der Voreinstellung, selbst bei existenziellen Fragen.


Auch bei der betrieblichen Altersvorsorge in den USA zeigte sich die Macht des Defaults. Wird die Teilnahme automatisch voreingestellt, bleiben deutlich mehr Arbeitnehmer im System, als wenn sie sich aktiv anmelden müssen. Die Entscheidung für oder gegen eine private Altersvorsorge wird so durch die Voreinstellung gelenkt, ohne dass ein Zwang besteht.


Ein weiteres Beispiel ist die Selbstsperre beim Glücksspiel in deutschen Spielbanken. Spieler können sich selbst sperren lassen, um problematischem Spielverhalten vorzubeugen. Die Möglichkeit dazu wird offensiv kommuniziert, um die Hemmschwelle für den Selbstschutz zu senken.


Nudging im öffentlichen Raum und Alltag

Im Alltag begegnen Menschen Nudges an vielen Stellen. Die aufgeklebte Fliege im Urinal am Flughafen Schiphol ist ein berühmtes Beispiel: Sie erhöht die Treffsicherheit und senkt die Reinigungskosten um bis zu 80 Prozent. In Schulkantinen werden Obst und Gemüse auffällig platziert, um gesunde Ernährung zu fördern. Hotels nutzen Social-Proof-Nudges: Hinweise wie „9 von 10 Gästen verwenden ihr Handtuch mehrfach“ animieren zur Ressourcenschonung.


Auch Schockbilder auf Zigarettenpackungen sind ein politischer Nudge. Seit 2016 müssen in der EU Warnhinweise und abschreckende Fotos 65 Prozent der Verpackung einnehmen. Ziel ist, vor allem junge Menschen vom Rauchen abzuhalten.


Digital Nudging und Dark Patterns

Mit der Digitalisierung haben sich neue Formen des Nudging etabliert. „Digital Nudging“ gestaltet Entscheidungsumfelder im Netz. Grafische Elemente, Farben, Erinnerungen oder die Platzierung von Buttons beeinflussen das Nutzerverhalten. Einfache Beispiele sind Cookie-Banner, die die Zustimmung zur Datennutzung durch auffällige Farben und prominente Platzierung erleichtern.


Problematisch wird es bei sogenannten Dark Patterns. Diese Designmuster verleiten Nutzer zu Handlungen, die ihren Interessen entgegenlaufen. Beispiele sind versteckte Opt-out-Funktionen, erschwerte Kündigungsprozesse, Trickfragen oder das „Unterschieben“ zusätzlicher Käufe („sneak into basket“). Auch Privacy Zuckering – das gezielte Erschweren datenschutzfreundlicher Einstellungen – zählt dazu.


Im Online-Handel werden künstliche Verknappungssignale genutzt: Hinweise wie „Nur noch zwei verfügbar!“ erzeugen Kaufdruck. Preisvergleiche werden durch Ablenkung oder versteckte Kosten erschwert. In Apps und bei In-App-Käufen werden Nutzer durch trickreiche Fragen zu Abonnements verleitet.


Dark Nudges und Sludge: Missbrauch und Manipulation


Nicht alle Nudges dienen dem Gemeinwohl. „Dark Nudges“ und „Sludge“ bezeichnen gezielte Verhaltenslenkung gegen die Interessen der Nutzer. Die Alkoholindustrie nutzt diese Methoden systematisch. Corporate Social Responsibility-Organisationen der Branche verbreiten gemischte Botschaften, normalisieren Alkoholkonsum und erschweren den Zugang zu kritischen Gesundheitsinformationen durch Design und Sprache. Ziel ist, wissenschaftliche Erkenntnisse zu untergraben und politische Regulierungen zu verhindern.


Auch in der Glücksspielbranche werden Nudges missbraucht. Spielerlebnisse werden durch Algorithmen personalisiert, Gewinne werden akustisch und visuell überhöht dargestellt, Verluste als Teilgewinne verschleiert. Touchscreen-Buttons minimieren den Aufwand langer Spielsessions. Die hohe Frequenz und Komplexität der Spiele erschweren die Kontrolle. Diese Mechanismen halten Spieler im System und fördern riskantes Verhalten.


Nudging in der politischen Kommunikation

Politische Akteure setzen Nudging gezielt im Wahlkampf ein. Im Bundestagswahlkampf 2021 wurden psychologische Mechanismen genutzt, um Wahlentscheidungen zu beeinflussen. Digitale Kampagnen arbeiteten mit Framing, Social Proof und gezielten Erinnerungen. Die Grenzen zwischen legitimer Information, Persuasion, Manipulation und Nudging sind dabei fließend. Ethiker fordern deshalb mehr Transparenz und gesellschaftlichen Dialog über den Einsatz solcher Strategien.


Auch Parteien selbst nutzen Nudging intern. So können Mitgliedsbeiträge durch Default-Voreinstellungen im Beitrittsformular erhöht werden. Informationen über Leistungen der Partei wirken als Begründung für höhere Beiträge. Funktionäre werden durch gezielte Anreize zu Innovationen motiviert. Die Heinrich-Böll-Stiftung sieht darin eine Chance für parteiinterne Reformen, warnt aber zugleich vor der Gefahr, dass Nudging zum Instrument gut organisierter Einzelinteressen werden kann.


Kritik und ethische Herausforderungen


Nudging steht in der Kritik, wenn es intransparente oder manipulative Züge annimmt. Besonders problematisch ist der Einsatz in ethisch sensiblen Bereichen wie Organspende, Datenschutz oder Glücksspiel. Bürger fühlen sich unwohl, wenn der Staat oder Unternehmen versuchen, Entscheidungen zu beeinflussen, die eigentlich privat bleiben sollten.


Dark Patterns stehen im Verdacht, Verbraucherrechte zu unterlaufen und die Autonomie der Nutzer auszuhöhlen. Die Stiftung Neue Verantwortung und das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag bewerten sie als unethisch und zum Teil betrügerisch. Die EU hat daher mit der Digitaldiensteverordnung erste Verbote und Transparenzpflichten eingeführt.


Quellenverzeichnis

Wirtschaftsdienst (2014): Nudging als politisches Instrument – gute Absicht oder staatlicher Übergriff.

Wirtschaftsdienst (2020): Nudging hell und dunkel: Regeln für digitales Nudging.

Wikipedia: Dark Pattern.

fakten.org: Nudging – Eine Strategie, Personen zu manipulieren?

Deutschlandfunk: Nudging: Manipuliert uns die Politik?

Alkoholpolitik.de: Dark Nudges und Sludge in der Alkoholindustrie.

Johann, M./Dombrowski, J. (2021): Nudging in der politischen Online-Kommunikation – OPUS.

Reisch, L.A. (2021): Dark Patterns und Dark Nudges – Forschungsstelle Glücksspiel.

Bruttel, L.V./Stolley, F.: Nudging als politisches Instrument – gute Absicht oder staatlicher Übergriff?

IW Akademie: Nudges vs. Sludges – Wo beginnen schlechte Anreize?

Heinrich-Böll-Stiftung (2015): Stupser für eine zukunftsfähige Partei.

Reisch, L.A. (2020): Nudging hell und dunkel – CBS Research Portal.

growganic.de: Nudging: Definition und 7 Beispiele für Nudges.

Welt: Nudging – Der gefährliche Nebeneffekt von Nudging, den niemand sieht

Bundeszentrale für politische Bildung: "Schubs mich nicht!" – Nudging als politisches Gestaltungsmittel

Politik & Kommunikation: Nudging – Schöne neue Regierungswelt?

Feilbach, Saba: Nudging zur Steigerung von umweltbewusstem Verhalten

Seitz, T.: Die Praxis des Nudging – Sanftes Regieren durch Entscheidungsarchitektur

bidt.digital: Nudging | bidt

bottom of page