Richard Krauss
5. Juli 2025
Nachrichtendienstliche Erkenntnisse
für die Verwendung von Chlorpikrin
als völkerrechtlich verbotene Waffe
und deren militärische Auswirkungen

Russland hat in den vergangenen sechs Wochen den Einsatz chemischer Waffen im Ukrainekrieg signifikant ausgeweitet. Aktuelle Erkenntnisse westlicher Nachrichtendienste (BND, MIVD, AIVD), ukrainischen Behörden und internationalen Organisationen wie der OPCW zeigen, dass Chlorpikrin und CS-Gas systematisch und in großem Umfang eingesetzt werden.
Die Zahl der dokumentierten Angriffe liegt laut ukrainischem Verteidigungsministerium bei über 9.000 seit Beginn der Invasion, mit einer klaren Häufung im aktuellen Zeitraum. Mindestens drei Todesfälle und mehr als 2.500 Verletzte sind direkt auf chemische Kampfstoffe zurückzuführen. Die Dunkelziffer ist hoch, da viele Fälle in Kampfgebieten nicht erfasst oder nicht eindeutig zugeordnet werden können.
Russische Einheiten bringen chemische Substanzen gezielt mittels Drohnen, Artillerie und improvisierten Behältern in ukrainische Stellungen ein. Ziel ist es, Verteidiger aus Deckungen zu vertreiben und sie anschließend mit konventionellen Waffen zu bekämpfen. Die Koordination mit Artillerie- und Infanterieangriffen ist dokumentiert. Die Wirkung auf Moral, Disziplin und Reaktionsfähigkeit der ukrainischen Truppen ist erheblich. Die ständige Bedrohung durch unsichtbare Stoffe führt zu einer erhöhten psychologischen Belastung und einer Schwächung der Verteidigungsbereitschaft.
Chlorpikrin ist eine farblose, flüchtige Flüssigkeit mit stechendem Geruch. Die Substanz gehört zur Gruppe der Lungenkampfstoffe („Choking Agents“). Bereits geringe Konzentrationen führen zu Reizungen von Augen, Atemwegen und Schleimhäuten. Typische Symptome sind Husten, Tränenfluss, Übelkeit, Erbrechen und Atemnot.
Bei höherer Exposition kann Chlorpikrin zu toxischem Lungenödem führen, das tödlich verlaufen kann. Die Wirkung tritt teils verzögert ein, was die medizinische Behandlung erschwert. CS-Gas (2-Chlorbenzylidenmalonsäuredinitril) reizt Augen, Atemwege und Haut und zwingt Soldaten, ihre Stellungen zu verlassen. Die Kombination beider Stoffe erhöht die Effektivität der russischen Taktik, da sie sowohl unmittelbare als auch verzögerte Wirkung entfalten.
Russland verstößt mit dem Einsatz von Chlorpikrin und CS-Gas gegen das Chemiewaffenübereinkommen (CWC). Die internationale Reaktion beschränkt sich bislang auf Sanktionen, diplomatische Protestnoten und verstärkte Überwachung durch die OPCW und andere internationale Gremien. Eine direkte Intervention oder eine umfassende Untersuchung vor Ort ist bisher nicht erfolgt, da Russland als Vetomacht im UN-Sicherheitsrat Gegenmaßnahmen blockiert.
Der Chemiewaffeneinsatz ist systematisch und Teil einer abgestimmten Gesamtstrategie. Chemische Waffen werden genutzt, um Verteidigungsstellungen zu schwächen, Truppenbewegungen zu erzwingen und die operative Handlungsfähigkeit der Ukraine zu beeinträchtigen.
Russische Einheiten setzen chemische Kampfstoffe gezielt ein, um ukrainische Soldaten aus geschützten Stellungen zu vertreiben und sie im Anschluss auf offenem Gelände mit Artillerie, Drohnen oder Infanterie anzugreifen. Die psychologische Wirkung ist integraler Bestandteil der Taktik: Die permanente Unsicherheit über das mögliche Vorhandensein chemischer Kampfstoffe schwächt die Moral der Verteidiger und führt zu einer erhöhten Fluktuation an der Front.
Die Ukraine muss erhebliche Ressourcen für Schutzausrüstung, medizinische Versorgung und Dekontamination aufwenden. Dies bindet Kräfte und schwächt die Fähigkeit zu Gegenangriffen. Die russische Seite erzielt damit eine asymmetrische Überlegenheit, ohne auf großflächige konventionelle Eskalation angewiesen zu sein.
Die russische Militärführung und die radiologischen, chemischen und biologischen Abwehrtruppen unterstützen den Chemiewaffeneinsatz aktiv. Der Einsatz ist zur Routine geworden und wird voraussichtlich fortgesetzt. Die russische Seite investiert zudem in die Weiterentwicklung chemischer Kampfstoffe und die Rekrutierung von Fachpersonal für das Chemiewaffenprogramm.
Die Schwelle für den Einsatz chemischer Waffen ist gesunken. Die Standardisierung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass ähnliche Mittel in anderen Konflikten oder gegen andere Staaten eingesetzt werden. Die Gefahr, dass chemische Kampfstoffe im Rahmen hybrider Operationen – etwa bei Sabotageakten, Anschlägen oder verdeckten Einsätzen – auch außerhalb der Ukraine verwendet werden, ist gestiegen.
Präzedenzfälle wie die Nowitschok-Anschläge in Salisbury (2018) und gegen Nawalny (2020) zeigen, dass Russland bereit ist, chemische Kampfstoffe auch auf NATO-Territorium einzusetzen. Die Kombination aus Chemiewaffeneinsatz, Cyberangriffen und Desinformationskampagnen erhöht die Komplexität der Bedrohungslage. Die Attribution wird erschwert, die politische Reaktionsfähigkeit westlicher Staaten beeinträchtigt.
Russland kombiniert den Chemiewaffeneinsatz mit weiteren Elementen hybrider Kriegsführung. Dazu zählen gezielte Cyberangriffe auf militärische und zivile Infrastruktur, Desinformationskampagnen zur Verunsicherung der Bevölkerung und Sabotageakte gegen kritische Infrastruktur. Die russische Strategie setzt auf graduelle, schwer zuzuordnende Eskalation. Ziel ist es, Unsicherheit zu erzeugen, Entscheidungsprozesse zu lähmen und die Reaktionsfähigkeit des Westens zu testen. Die plausible Leugnung des eigenen Handelns bleibt zentraler Bestandteil der russischen Vorgehensweise. Ein massiver Chemiewaffenangriff ist weniger wahrscheinlich als eine Serie verdeckter, gezielter Operationen, die kumulativ Destabilisierung und Vertrauensverlust erzeugen.
Die Gefahr für die Ukraine bleibt akut: Chemische Angriffe destabilisieren die Front, erhöhen Verluste und behindern die Verteidigungsfähigkeit. Die psychologische Belastung der Truppen steigt, die Bereitschaft zur Verteidigung sinkt. Die Ukraine ist gezwungen, einen erheblichen Teil ihrer Kapazitäten in Schutzausrüstung, medizinische Versorgung und Dekontaminationsmaßnahmen zu investieren.
Die Notwendigkeit, ständig auf chemische Angriffe vorbereitet zu sein, bindet Kräfte, verlangsamt Reaktionszeiten und erschwert die Durchführung koordinierter Gegenoffensiven. Die Gefahr für Europa ist real: Die Hemmschwelle für den Einsatz chemischer Waffen in anderen Staaten ist gesunken. Die Wahrscheinlichkeit gezielter, verdeckter Einsätze gegen kritische Infrastruktur, politische Gegner oder militärische Ziele in Europa ist gestiegen.
Die NATO und EU haben ihre CBRN-Abwehr (chemisch, biologisch, radiologisch, nuklear) verstärkt, Frühwarnsysteme ausgebaut und die Zusammenarbeit intensiviert. Die politische Kohärenz bleibt fragil, da die Bedrohungswahrnehmung in den Mitgliedsstaaten unterschiedlich ist.
Die Bündnisfähigkeit der NATO steht damit vor einer doppelten Herausforderung: Einerseits muss sie ihre Verteidigungsplanung anpassen, um auf chemische Bedrohungen glaubwürdig reagieren zu können. Andererseits gerät die politische Kohärenz des Bündnisses unter Druck, da unterschiedliche Risikowahrnehmungen und Bereitschaft zur Eskalationserwiderung innerhalb der Mitgliedsstaaten divergieren.
Die internationale Reaktion beschränkt sich bislang auf Sanktionen, diplomatische Protestnoten und verstärkte Überwachung durch die OPCW und andere internationale Gremien. Die politische Antwort des Westens bleibt bislang reaktiv und fragmentiert. Sanktionen und diplomatischer Druck reichen nicht aus, um die russische Risikokalkulation grundlegend zu verändern.
Notwendig wäre eine strategische Neuausrichtung, die sowohl die Resilienz der europäischen Gesellschaften gegenüber chemischen Bedrohungen erhöht als auch die Fähigkeit zur glaubwürdigen Abschreckung und – im Ernstfall – zur kollektiven Reaktion sicherstellt. Ohne diese Anpassung droht eine weitere Absenkung der Hemmschwelle für den Einsatz chemischer Waffen in Europa.
Die Gefahr einer schleichenden Normalisierung des Chemiewaffeneinsatzes ist hoch. Jede Duldung erhöht das Risiko, dass weitere Akteure diese Schwelle überschreiten. Die Abschreckungswirkung internationaler Normen ist bereits geschwächt. Die russische Strategie setzt auf graduelle, schwer zuzuordnende Eskalation. Ziel ist es, Unsicherheit zu erzeugen, Entscheidungsprozesse zu lähmen und die Reaktionsfähigkeit des Westens zu testen.
Quellenverzeichnis
(Primärquellen)
Bundesnachrichtendienst (BND):
https://www.bnd.bund.de/DE/Service/Public-Intelligence/_functions/20250704-chem-waffen-rus-sa.html
Niederländischer Militärnachrichtendienst (MIVD) & Allgemeiner Nachrichtendienst der Niederlande (AIVD):
Internationale Organisationen und Fachnetzwerke
OPCW (Organisation für das Verbot chemischer Waffen):
CBWNet (Fachnetzwerk Chemische und Biologische Waffen):
https://cbwnet.org/de/publications/chemiewaffenvorwuerfe-und-russlands-invasion-der-ukraine
BAFA (Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle) – Chemiewaffenübereinkommen (CWÜ):
Glossar
AIVD (Algemene Inlichtingen- en Veiligheidsdienst)
Niederländischer ziviler Nachrichtendienst für nationale Sicherheit und Spionageabwehr.
BAFA (Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle)
Deutsche Behörde, zuständig u. a. für die Kontrolle der Einhaltung des Chemiewaffenübereinkommens.
CBRN
Abkürzung für Chemical, Biological, Radiological, Nuclear – Sammelbegriff für chemische, biologische, radiologische und nukleare Gefahrenstoffe und entsprechende Schutzmaßnahmen.
CBWNet
Fachnetzwerk für chemische und biologische Waffen, wissenschaftliches Netzwerk zur Analyse und Bewertung von Entwicklungen im Bereich C/B-Waffen.
Chlorpikrin (Trichlornitromethan, CCl₃NO₂)
Farblose, stechend riechende Flüssigkeit, Lungenkampfstoff („Choking Agent“), verursacht starke Reizungen und Lungenödeme, im Ersten Weltkrieg als Kampfstoff eingesetzt.
CS-Gas (2-Chlorbenzylidenmalonsäuredinitril)
Reizstoff, auch als Tränengas bekannt, führt zu Reizungen von Augen, Atemwegen und Haut; im Kriegseinsatz als chemische Waffe verboten.
Force Multiplier
Militärischer Begriff für eine Fähigkeit oder Waffe, die die Wirkung einer Truppe oder Operation überproportional verstärkt.
Hybridkrieg/Hybride Kriegsführung
Kombination aus konventionellen militärischen Mitteln und unkonventionellen Methoden (z. B. Cyberangriffe, Desinformation, Sabotage).
Lungenkampfstoff (Choking Agent)
Chemischer Kampfstoff, der die Atemwege und Lunge angreift und zu Atemnot und Lungenödemen führen kann.
MIVD (Militaire Inlichtingen- en Veiligheidsdienst)
Niederländischer Militärnachrichtendienst.
OPCW (Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons)
Internationale Organisation zur Überwachung des Chemiewaffenübereinkommens.
Plausible Deniability
Strategie, bei der eine Verantwortung für eine Handlung glaubhaft abgestritten werden kann.
Toxisches Lungenödem
Flüssigkeitsansammlung in der Lunge infolge von Giftstoffen, führt zu Atemnot und kann tödlich sein.
Hinweis:
Trotz sorgfältiger Auswertung und Mehrquellenabgleich kann im nachrichtendienstlichen Kontext nie vollständig ausgeschlossen werden, dass einzelne Informationen gezielten Täuschungsversuchen oder Desinformationskampagnen unterliegen. Die Bewertung basiert jedoch auf aktuellen, als verlässlich eingestuften Quellen und etablierten Analyseverfahren, erhebt jedoch keinen Anspruch auf absolute Fehlerfreiheit.