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Srebrenica: Drei Jahrzehnte der Stille

Richard Krauss

11. Juli 2025

Dreißig Jahre nach dem Massaker
– Verantwortung und Mahnung

Am 11. Juli 2025 jährt sich das Massaker von Srebrenica zum dreißigsten Mal. Die systematische Ermordung von mehr als 8.000 bosnisch-muslimischen Männern und Jungen im Juli 1995 durch bosnisch-serbische Truppen ist ein historisches Ereignis, das nicht nur als Symbol für das Scheitern internationaler Schutzmechanismen gilt, sondern auch die zerstörerische Kraft von Nationalismus und Hass inmitten Europas offenbart.


Die Architektur der Gewalt: Planung und Durchführung des Genozids


Die Ereignisse um Srebrenica waren das Ergebnis einer gezielten Strategie der bosnisch-serbischen Führung, die auf ethnische Homogenisierung abzielte. General Ratko Mladić und politische Anführer wie Radovan Karadžić verfolgten das Ziel, die bosniakische Bevölkerung aus weiten Teilen Ostbosniens zu vertreiben oder zu vernichten. Die Einnahme Srebrenicas im Juli 1995 war der Höhepunkt dieser Politik.


Gedenkstätte in Gedenkstätte in Srebrenica
Gedenkstätte in Gedenkstätte in Srebrenica

Nach der Einnahme der Stadt wurden Männer und Jungen systematisch von Frauen und Kindern getrennt. Die Selektion erfolgte unter den Augen der niederländischen UN-Soldaten. Die Männer wurden in Bussen und Lkw abtransportiert, oft mit dem Vorwand, sie würden verhört oder ausgetauscht. In Wirklichkeit wurden sie an abgelegene Orte gebracht, wo sie in Gruppen erschossen wurden. Die Täter gingen methodisch vor:


Sie zwangen die Opfer, sich auszuziehen, knien oder mit dem Gesicht zur Wand zu stehen. Die Erschießungen erfolgten mit automatischen Waffen, oft in Lagerhallen, Schulen oder auf Feldern.


Überlebende wurden gezielt gesucht und getötet. Minderjährige wurden nicht verschont; es gibt dokumentierte Fälle, in denen Jungen im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren erschossen wurden.


Die Leichen wurden in Massengräbern verscharrt, die später teilweise wieder geöffnet und die Überreste umgebettet wurden, um die Spuren der Verbrechen zu verwischen. Diese Praxis erschwerte die spätere Identifizierung der Opfer erheblich und verlängerte das Leid der Angehörigen. Die Grausamkeit war nicht auf physische Gewalt beschränkt:


Viele Gefangene wurden vor ihrer Ermordung geschlagen, gefoltert oder sexuell missbraucht. Die psychische Zerstörungskraft dieser systematischen Demütigungen ist bis heute in den Berichten der Überlebenden spürbar.


Die Rolle der internationalen Gemeinschaft und das niederländische UN-Mandat


Die Vereinten Nationen hatten Srebrenica 1993 zur „sicheren Zone“ erklärt. Das niederländische Kontingent „Dutchbat“ war mit dem Schutz der Zivilbevölkerung beauftragt. Die Soldaten waren jedoch zahlenmäßig und waffentechnisch deutlich unterlegen. Sie verfügten über leichte Bewaffnung und waren auf Luftunterstützung angewiesen, die von der UN-Führung wiederholt abgelehnt oder zu spät genehmigt wurde.

Die serbischen Angreifer waren mit schwerem Gerät und Artillerie ausgestattet und konnten die Stadt ohne ernsthaften Widerstand einnehmen.


Während der Einnahme Srebrenicas flohen Tausende Zivilisten ins UN-Lager in Potočari. Dutchbat-Soldaten waren angesichts der Übermacht der Angreifer und der mangelnden Unterstützung handlungsunfähig. Sie halfen beim Abtransport der Flüchtlinge und trennten dabei – teils unter Zwang – Männer und Jungen von ihren Familien.


Besonders schwer wiegt die Entscheidung, etwa 350 Männer, die sich auf dem UN-Stützpunkt befanden, an die Serben auszuliefern. Niederländische Gerichte sprachen dem Staat eine Teilschuld am Tod dieser Männer zu, da Dutchbat sie der Überlebenschance beraubte. Für die übrigen Opfer wurde der niederländische Staat nicht haftbar gemacht, da die Gerichte die Überlebenschance angesichts der serbischen Übermacht ohnehin als gering einschätzten.


Das niederländische Mandat gilt als gescheitert und führte in den Niederlanden zu einem politischen und gesellschaftlichen Schock. Die Regierung trat 2002 nach Veröffentlichung eines Untersuchungsberichts zurück.

International wurde Srebrenica zum Symbol für das Versagen von Friedensmissionen ohne klare Mandate und ausreichende Ressourcen. Die Ereignisse beeinflussten die Entwicklung des Konzepts der „Responsibility to Protect“ (R2P), das Staaten zur Intervention bei schweren Menschenrechtsverletzungen verpflichtet.


Juristische Aufarbeitung und politische Konsequenzen

Nach dem Krieg wurden die Hauptverantwortlichen – darunter Radovan Karadžić und Ratko Mladić – vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) wegen Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen angeklagt und zu langen Haftstrafen verurteilt.

Insgesamt wurden 161 Personen angeklagt, 90 davon verurteilt. Die Urteile des ICTY waren ein Meilenstein für die internationale Strafgerichtsbarkeit, konnten aber das Leid der Überlebenden und Hinterbliebenen nicht lindern.


Die juristische Aufarbeitung stieß auf politische Widerstände, insbesondere in Serbien und der Republika Srpska, wo das Massaker von Teilen der Gesellschaft bis heute geleugnet oder relativiert wird. In Bosnien und Herzegowina ist die Anerkennung des Genozids politisch umstritten, was die gesellschaftliche Versöhnung erheblich erschwert.


Gesellschaftliche und individuelle Nachwirkungen

Die Überlebenden und Angehörigen der Opfer leiden bis heute unter den seelischen und sozialen Folgen. Viele kämpfen mit posttraumatischen Belastungsstörungen, Depressionen und Schuldgefühlen. Die Region Srebrenica ist wirtschaftlich geschwächt, viele Rückkehrer leben in Armut und sozialer Isolation. Die gezielte Auslöschung der männlichen Bevölkerung hat das soziale Gefüge zerstört; ganze Familien wurden ausgelöscht, Dörfer entvölkert.


Die gesellschaftlichen Spannungen in Bosnien und Herzegowina sind weiterhin präsent. Die politische Landschaft ist fragmentiert, ethnische Konflikte bestimmen das öffentliche Leben. Das Leugnen des Genozids in Teilen der Gesellschaft verhindert eine nachhaltige Versöhnung.


Die „Mütter von Srebrenica“ und andere Organisationen kämpfen für die Anerkennung des Verbrechens und für Gerechtigkeit. Jährlich am 11. Juli finden in Srebrenica und weltweit Gedenkveranstaltungen statt. Im Gedenkzentrum von Potočari werden die Überreste neu identifizierter Opfer beigesetzt.


Erinnerungskultur und die politische Bedeutung von Srebrenica

Die Erinnerung an Srebrenica ist ein Prüfstein für die europäische Erinnerungskultur. Die Gedenkfeiern, die Namen auf den Grabsteinen, die Berichte der Überlebenden – all dies ist keine bloße Trauerarbeit, sondern eine politische und gesellschaftliche Aufgabe. Die Auseinandersetzung mit Srebrenica zwingt dazu, die Mechanismen des Hasses und der Ausgrenzung zu erkennen, die auch heute in Europa wieder an Bedeutung gewinnen.


Die Ereignisse von Srebrenica haben die Debatte über die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft für den Schutz von Zivilisten in Konflikten grundlegend verändert. Das Konzept der „Responsibility to Protect“ ist eine direkte Folge des Versagens von Srebrenica. Es verpflichtet Staaten, bei drohendem Völkermord oder schweren Menschenrechtsverletzungen einzugreifen – notfalls auch militärisch. Die Umsetzung dieses Prinzips bleibt jedoch umstritten und hängt von politischen Interessen ab.


Srebrenica als Herausforderung für Gegenwart und Zukunft

Srebrenica ist kein abgeschlossenes Kapitel, sondern eine offene Herausforderung. Die Geschichte zwingt dazu, über die Grenzen von Empathie, Gerechtigkeit und politischer Handlungsfähigkeit nachzudenken. Die systematische, menschenverachtende Grausamkeit des Massakers zeigt, wie schnell gesellschaftlicher Zusammenhalt zerbrechen kann. Die Erinnerung an Srebrenica ist eine Mahnung, dass Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern immer wieder neu errungen werden müssen.


Auch dreißig Jahre nach dem Genozid bleibt die vollständige Aufarbeitung schwierig. Viele Täter wurden verurteilt, doch gesellschaftliche Spaltung und das Leugnen des Genozids erschweren eine nachhaltige Versöhnung. Die politische Landschaft ist weiterhin von ethnischen Konflikten geprägt, die wirtschaftliche Entwicklung stagniert. Die Auseinandersetzung mit Srebrenica bleibt eine Aufgabe für die europäische Gesellschaft – heute und in Zukunft.


Quellen:


  1. Facts about Srebrenica (ICTY)

  2. Srebrenica: Timeline of Genocide (IRMCT)

  3. Genocide in Srebrenica - United Nations

  4. Srebrenica massacre – Wikipedia

  5. Dutchbat – Wikipedia

  6. Responsibility to protect – Wikipedia

  7. Srebrenica genocide – Britannica

  8. The State of the Netherlands v. Respondents & Stichting Mothers of Srebrenica (Cambridge Core)

  9. ICTY/Bosnia: Karadzic Convicted for Srebrenica Genocide (HRW)

  10. List of Victims | Remembering Srebrenica

  11. Recalling 'responsibility to protect' UN pays tribute to victims of Srebrenica genocide (OHCHR)

  12. The long fight for justice for the victims of the Srebrenica Genocide (Council of Europe)

  13. Dutchbat – Wikipedia (2024)

  14. ICTY Remembers: The Srebrenica Genocide (IRMCT)

  15. UN Security Council Resolution S/2015/508


Glossar:


Genozid

Die systematische Vernichtung einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe mit dem Ziel, diese als solche ganz oder teilweise auszulöschen. Der Begriff wurde 1944 von Raphael Lemkin geprägt und ist völkerrechtlich im Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes definiert.

 

Dutchbat

Bezeichnung für das niederländische UN-Kontingent, das im Rahmen der UNPROFOR-Mission für den Schutz der „sicheren Zone“ Srebrenica verantwortlich war.

 

Ethnische Säuberung

Die gewaltsame Vertreibung oder Vernichtung einer ethnischen Gruppe aus einem bestimmten Gebiet, um eine homogene Bevölkerungsstruktur zu schaffen.

 

Forensische Anthropologie

Ein wissenschaftliches Fachgebiet, das sich mit der Identifizierung und Untersuchung menschlicher Überreste befasst, insbesondere im Kontext von Kriegsverbrechen und Massengräbern.

 

ICTY (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia)

Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, ein von den Vereinten Nationen eingerichtetes Sondertribunal zur Verfolgung schwerer Verbrechen wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit den Jugoslawienkriegen.

 

Massengrab

Eine Grabstätte, in der die Leichen vieler Menschen gemeinsam beigesetzt werden, häufig um Spuren von Kriegsverbrechen oder Massakern zu verwischen.

 

Mütter von Srebrenica

Eine Organisation von Überlebenden und Angehörigen der Opfer, die sich für die Anerkennung des Genozids, die Aufklärung der Verbrechen und die juristische Aufarbeitung einsetzen.

 

Potočari

Ein Dorf in der Nähe von Srebrenica, das während des Massakers zum zentralen Zufluchtsort für Zivilisten und zum Standort des UN-Stützpunkts wurde. Heute befindet sich dort das Gedenkzentrum für die Opfer des Genozids.

 

Republika Srpska

Eine der beiden konstitutiven Entitäten von Bosnien und Herzegowina, die während des Bosnienkriegs von bosnisch-serbischen Kräften ausgerufen wurde und bis heute eine eigene Regierung innerhalb des Gesamtstaates hat.

 

Responsibility to Protect (R2P)

Ein internationales Konzept, das Staaten verpflichtet, ihre Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. Bei Versagen der Staaten kann die internationale Gemeinschaft eingreifen.

 

UNPROFOR (United Nations Protection Force)

Die Schutztruppe der Vereinten Nationen, die während der Jugoslawienkriege für den Schutz von Zivilisten und die Durchsetzung von Waffenstillständen eingesetzt wurde.

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