Richard Krauss
26. Juni 2025
Wenn Vielfalt stört – Das fatale Signal aus dem Parlament

Julia Klöckners Entscheidung, die Regenbogenflagge am Bundestag zum Christopher Street Day nicht zu hissen und das queere Netzwerk der Bundestagsverwaltung von der offiziellen CSD-Teilnahme auszuschließen, ist mehr als eine administrative Randnotiz – sie ist ein Lehrstück über die Grenzen politischer Symbolik und die Versuchung, Neutralität als Schutzschild gegen gesellschaftlichen Wandel zu instrumentalisieren.
Vordergründig beruft sich die Bundestagspräsidentin auf die Unparteilichkeit der Institution, auf das Primat der Bundesflagge und die Gefahr, der Bundestag könne sich mit „zu weitgehenden“ Forderungen des CSD gemein machen. Doch diese Argumentation wirkt bei genauerem Hinsehen wie ein kunstvoll drapiertes Feigenblatt: Das Grundgesetz verpflichtet den Staat nicht allein zur Zurückhaltung, sondern gerade in Zeiten wachsender Diskriminierung zu aktiver Parteinahme für die Menschenwürde und den Schutz von Minderheiten.
Auch verfassungsrechtlich offenbart Klöckners Haltung fundamentale Widersprüche zur Logik des Grundgesetzes. Ihre Begründung einer „gebotenen Neutralität“ kollidiert mit dem aktiven Schutzauftrag des Staates aus Artikel 1 Absatz 1 (Menschenwürdegarantie) und Artikel 3 Absatz 3 (Diskriminierungsverbot). Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt betont, dass staatliche Neutralität keine Wertabstinenz bedeutet, sondern die Pflicht, verfassungsfeindliche Diskriminierung aktiv zu bekämpfen. Besonders problematisch ist die rechtsdogmatische Inkonsistenz: Die Beflaggung am 17. Mai, dem Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie, wird zugelassen, während sie am CSD untersagt wird – obwohl beide Tage demselben Anliegen dienen. Dies verletzt das Willkürverbot des Grundgesetzes.
Hinzu kommt, dass das Bundesinnenministerium bereits 2022 klargestellt hat, dass das Hissen der Regenbogenflagge an Bundesgebäuden mit der Verfassung vereinbar ist, solange es nicht an nationalen Trauertagen erfolgt. Klöckners pauschales Verbot missachtet diese Verwaltungspraxis. Indem die Regenbogenflagge auf einen „unpolitischen“ Gedenktag reduziert wird, entzieht der Staat einem verfassungsrechtlich geschützten Anliegen die Sichtbarkeit – und das in einer Zeit, in der laut BKA-Statistik queerfeindliche Straftaten deutlich zunehmen. Juristisch relevant ist auch der verfassungsimmanente Wertekonflikt: Klöckners Fokussierung auf die Bundesflagge als „zentrales Symbol“ blendet aus, dass Artikel 1 und 3 höherrangige Schutzgüter darstellen.
Das Bundesverfassungsgericht betont, dass staatliche Symbole Integrationsfunktion haben müssen – was die Regenbogenflagge als Zeichen für eine offene Republik erfüllt.
Die selektive Symbolpolitik – am 17. Mai ist die Regenbogenflagge willkommen, zum CSD bleibt sie verbannt – lässt sich sachlich kaum begründen. Sie offenbart vielmehr eine Haltung, die das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes nicht als Handlungsmaxime, sondern als Verhandlungsmasse betrachtet. Psychologisch ist das Signal fatal: In einer Gesellschaft, in der queerfeindliche Übergriffe zunehmen, wird den Betroffenen die symbolische Solidarität der höchsten demokratischen Institution entzogen. Die Botschaft ist unmissverständlich: Sichtbarkeit ist gestattet, solange sie nicht stört – und Unterstützung bleibt ein Gnadenakt, kein Recht.
Doch Klöckners Kalkül reicht tiefer. In einer CDU, die zwischen Modernisierung und Traditionspflege laviert, setzt sie auf das konservative Reflexpotenzial: Wer die Regenbogenflagge am Bundestag verbannt, sendet ein Signal an das eigene Lager und grenzt sich zugleich von einer als „woke“ diffamierten Symbolpolitik ab. Es ist der Versuch, die Definitionshoheit über gesellschaftliche Werte zurückzugewinnen und die politische Mitte mit einem Versprechen von Ordnung und Prinzipientreue zu umwerben. Die Bundestagspräsidentin sichert sich so innenpolitisch Spielraum, demonstriert Führungsstärke und schützt sich vor dem Vorwurf, sich von gesellschaftlichen Bewegungen vereinnahmen zu lassen.
Statt ein klares Zeichen gegen Ausgrenzung und für die Gleichwertigkeit aller Menschen zu setzen, sendet der Bundestag unter Klöckners Führung das Signal, dass die Sichtbarkeit und Anerkennung queerer Lebensrealitäten im Zweifel dem politischen Kalkül geopfert werden. Für die Betroffenen bedeutet das nicht nur einen symbolischen Affront, sondern die Erfahrung, dass ihre Anliegen selbst im Herzen der Demokratie nicht selbstverständlich sind. In einer Zeit, in der Angriffe auf Minderheiten zunehmen und demokratische Werte unter Druck geraten, ist diese Haltung mehr als eine verpasste Gelegenheit: Sie ist ein Rückschritt, der das Vertrauen in den Schutzauftrag des Staates erschüttert und den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet.
Wer die Regenbogenflagge am Parlament verweigert, verweigert letztlich auch die offene Auseinandersetzung mit den Realitäten und Bedürfnissen einer vielfältigen Gesellschaft.