Richard Krauss
18. Juli 2025
MAGA, Diskursverschiebung
im Kulturkampfmodus. -
Wie weit hat sich die
CDU/CSU Fraktion
von Friedrich Merz entfernt?
(der Text wurde am 18.7.2025 um 12:26 durch das Glossar ergänzt)
Der Streit um die Kandidatur von Frauke Brosius-Gersdorf für das Bundesverfassungsgericht verdeutlicht zentrale Schwächen im politischen und gesellschaftlichen Umgang mit dem Rechtsstaat, Gleichstellung und persönlicher Diffamierung.
Das verfassungsrechtliche Auswahlverfahren wird von parteipolitischen Interessen dominiert. Prozessmechanismen der Bundesrepublik erlauben Mehrheitsentscheide, nicht Argumente der Eignung. Dabei verschwimmen sachliche Kriterien. Juristische Qualifikation rückt hinter politische Zuschreibungen. Die Kandidatin wird nicht als Person mit Meriten diskutiert. Ihre Biografie wird zum Träger politischer Projektionen. Öffentliche Debatten erweisen sich als Symptom gesellschaftlicher Polarisierung. Das Verfassungsgericht wird zur Arena des politischen Kampfs.
Exemplarisch dafür stehen Äußerungen aus den Reihen der Union. Alexander Dobrindt (CSU), Bundesinnenminister, legt Brosius-Gersdorf öffentlich einen Rückzug nahe: „Sie muss sich darüber Gedanken machen, wie sie mit dieser Situation umgeht.“ Markus Söder, Ministerpräsident von Bayern, spricht von einer „Art der Befangenheit“, die gegenwärtig einer Wahl entgegensteht. Einzelne Abgeordnete sprechen von einer „ultralinken Juristin“ und einer „ungeeigneten“ Kandidatin.
Diese Aussagen dokumentieren den parteiinternen Druck, der auf einer politischen, nicht einer sachlichen Ebene entsteht.
Parallel dazu äußert sich Friedrich Merz, Bundeskanzler und CDU-Chef, deutlich zu den Vorgängen: „Was sie erlebt hat, ist inakzeptabel. Die Kritik ist teilweise polemisch und herabsetzend.“ Merz zeigt einerseits Distanz zu persönlichen Diffamierungen, andererseits bleibt er tatenlos:
Die weitere Klärung ist Sache der Fraktionen.“ Die Spannweite der Wahrnehmung innerhalb der Union wird sichtbar – Sprachrohre politischer Abgrenzung, gleichzeitig eine Führungsfigur, die von „Bedauern“ spricht, aber keine Konsequenzen nennt.
Doch die Debatte reicht weiter: Die Anfeindungen gegen Brosius-Gersdorf tragen frauenfeindliche Züge. In konservativen und rechten Publikationen wird sie als „ultralinks“ und „unwählbar“ gebrandmarkt. In Blogs und Kommentarspalten kursieren NS-Vergleiche und Unterstellungen, sie vertrete ein „zynisches Menschenbild“ Die publizistische Kampagne konzentriert sich auf ein Bild von Weiblichkeit, das angeblich „bedrohlich“ für Familie und Gesellschaft sei. In der Bundestagsdebatte wirft ihr ein Abgeordneter vor, sie atme „Diktate und Vorschriften“ (Ludwig, CDU, 15.07.2025).
Der Tenor: Frauen in Spitzenpositionen, die emanzipatorische Positionen einnehmen, sind Angriffsziele. Diese Muster zeigen, wie persönliche Diffamierung und geschlechterpolitische Zuspitzung im digitalen und parlamentarischen Raum ineinander greifen.
Die Kandidatin wird zum Symbol für gesellschaftliche Umbrüche, die Teile der politischen Rechten bekämpfen. Zugleich greifen Argumentationsmuster, die aus dem amerikanischen Rechtspopulismus bekannt sind:
Polarisierung, Personifikation, Verlagerung von Verantwortung auf die Betroffene, Massivnutzung sozialer Medien. Die Kritik an Brosius-Gersdorf wird zum Feldzug gegen eine vermeintliche „woke Agenda“.
Die Verantwortung für die Eskalation wird subtil auf die Kandidatin verschoben. Ihr Rückzug gilt als „selbstverständlich“, wenn sie „Verantwortung“ übernimme (Dobrindt, 18.07.2025). Die eigentlichen Akteure der Diffamierung werden nicht beim Namen genannt. Die Täter-Opfer-Umkehr wird zum Teil des politischen Geschäfts.
Die Causa Brosius-Gersdorf ist kein Einzelfall. Sie verdeutlicht, wie sehr die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts unter Druck gerät. Sie zeigt Schwächen im parlamentarischen Auswahlverfahren.
Sie macht sichtbar, dass Frauen in Führungspositionen nach wie vor mit sexistischen Angriffen konfrontiert werden. Und sie beweist, dass politisches Kalkül und gesellschaftliche Kampagnen den gesellschaftlichen Diskurs überformen.
Merzs Widerspruch – Distanzierung von Diffamierungen bei gleichzeitiger Tatenlosigkeit – steht beispielhaft für die Spaltung der Union.
Die Partei ringt zwischen Verantwortung für das politische Klima und dem Druck der Basis, die keine sachliche Diskussion, sondern Kampf um Deutungshoheit will.
Die Konsequenz: Das Recht wird zum Feld politischer Grabenkämpfe. Frauen in Spitzenämtern werden zum Symbol für gesellschaftliche Veränderungen und damit zur Zielscheibe.
Die Debatte um Brosius-Gersdorf ist Symptom und Warnsignal. Die Bundesrepublik muss sich entscheiden, ob sie eine Gesellschaft will, die sich ihren eigenen Prinzipien verpflichtet, oder eine, die die Spielregeln des Grundgesetzes aus dem Blick verliert.
Glossar zur Causa Brosius-Gersdorf
Bayerische Staatskanzlei
Amtssitz des Ministerpräsidenten von Bayern. Hier werden presseöffentliche Erklärungen zu landespolitischen Themen abgegeben. Markus Söder, Ministerpräsident, äußerte sich zur Causa Brosius-Gersdorf im Kontext der Bundesverfassungsrichterwahl.
Bundesverfassungsgericht (BVerfG)
Oberstes deutsches Gericht in Verfassungsfragen. Die Besetzung seiner Richterstellen ist politisch sensibel und wirkt sich auf Grundsatzentscheidungen aus.
CDU
Christlich Demokratische Union Deutschlands, eine der großen Volksparteien Deutschlands. Im Fall Brosius-Gersdorf verantwortlich für eine polarisierte Diskussion um die Besetzung des BVerfG-Richteramtes und die Kritik an der Kandidatin.
CSU
Christlich-Soziale Union in Bayern, Schwesterpartei der CDU. Mehrere Wortführer der Kritik an Brosius-Gersdorf stammen aus der bayerischen Landesgruppe.
Diffamierung
Systematische Herabsetzung, Verleumdung oder Stigmatisierung einer Person, häufig durch unsachliche oder persönliche Angriffe, wie sie in der Causa Brosius-Gersdorf insbesondere in Social Media und Blogs zu beobachten waren.
Diskursverschiebung
Prozess, bei dem sich der Fokus einer öffentlichen Debatte von ursprünglich sachlichen, rechtlichen oder qualifikatorischen Fragen auf politische, ideologische oder personenbezogene Aspekte verlagert.
Dobrindt, AlexanderCSU-Politiker, Bundesinnenminister. Fordert öffentlich den Verzicht Brosius-Gersdorfs und trägt damit zur öffentlichen Polarisierung bei.
Echokammer (Echo Chamber)
Kommunikationsraum, in dem Meinungen und Narrative durch Wiederholung und fehlende kritische Einwände verstärkt werden. In der Debatte um Brosius-Gersdorf relevant, weil Kampagnen über Social Media und Blogs gezielt verstärkt wurden.
Frauenfeindlichkeit / Sexismus
Feindliche, abwertende oder diskriminierende Haltung gegenüber Frauen, häufig verbunden mit Stereotypen und Rollenzuschreibungen. In der Causa Brosius-Gersdorf sichtbar in Anfeindungen, gezielten Diffamierungen und frauenspezifischen Kampagnenmethoden.
Fraktionsdisziplin
Erwartung, dass die Mitglieder einer parlamentarischen Fraktion einheitlich abstimmen und argumentieren. Im Kontext der Richterwahl ein Faktor für parteiinterne Polarisierung und Druck auf die Kandidatin.
Gleichstellung / Genderpolitik
Gesellschaftspolitischer Ansatz zur Herstellung gleicher Chancen und Anerkennung von Frauen und Männern. Im Kontext der Causa Brosius-Gersdorf Gegenstand von Kontroversen im Hinblick auf gesellschaftliche Erwartungen und Machtverteilung.
Grundgesetz
Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Die Unabhängigkeit der Justiz und der Schutz vor Diskriminierung sind zentrale Prinzipien, die im aktuellen Auswahlverfahren politisch herausgefordert werden.
Justiz
Dritte Gewalt im Staat, die unabhängig von Politik und Gesetzgebung Recht spricht. Die Besetzung des Bundesverfassungsgerichts gilt als politisch hochsensibel.
Kampagne
Gezielte, organisierte politische oder mediale Aktion zur Unterstützung oder Diskreditierung von Positionen oder Personen. Im Fall Brosius-Gersdorf wurden Kampagnen vor allem über digitale Kanäle geführt.
Kulturkampf
Ideologische oder gesellschaftliche Auseinandersetzung um Werte, Normen und Identität, häufig überlagert von Politik und Medien. Die Causa Brosius-Gersdorf wurde zum Symbol eines solchen Kulturkampfs.
MAGA-Mechanismen (Make America Great Again)
Politische und mediale Strategien, wie sie in der US-amerikanischen Rechten (Trump-Bewegung) prägend sind: schnelle Polarisierung, persönliche Angriffe, Täter-Opfer-Umkehr, Mobilisierung von Basisprotesten, gezielte Kampagnen über Social Media.
Merz, Friedrich
Vorsitzender der CDU und Bundeskanzler. Verurteilte die Kritik an Brosius-Gersdorf öffentlich als „polemisch und herabsetzend“, blieb jedoch tatenlos und verwies auf die Zuständigkeit der Fraktionen.
Narrativ
Vorherrschendes Interpretationsmuster oder Erzählweise, die einen gesellschaftlichen oder politischen Zusammenhang strukturiert. In der Causa Brosius-Gersdorf standen z. B. das Narrativ der gesellschaftlichen Polarisierung und der Täter-Opfer-Umkehr im Mittelpunkt.
Opfer-Täter-Umkehr (Täter-Opfer-Umkehr)
Mechanismus, bei dem einer betroffenen Person unterstellt wird, sie sei selbst an der Eskalation oder an erlittenen Angriffen schuld.
Paritätsgesetz
Rechtliche Regelung, die eine gleichberechtigte Besetzung von Gremien mit Männern und Frauen vorschreibt. Im Kontext der Causa Brosius-Gersdorf indirekt relevant, da immer wieder Fragen nach der gerechten Teilhabe von Frauen in politischen Spitzenpositionen gestellt werden.
Parlamentarisches Auswahlverfahren
Das Verfahren, mit dem der Bundestag Richterinnen und Richter für das Bundesverfassungsgericht bestimmt. Es ist geprägt von parteipolitischen Mehrheitsentscheiden und fachlich-sachlicher Prüfung.
Plagiatsvorwürfe
Öffentlich erhobene, häufig unsachliche Behauptungen, eine Person habe wissenschaftliche Arbeiten abgeschrieben oder fremde Leistungen als eigene ausgegeben. Bei Brosius-Gersdorf Teil der Kampagnenstrategie, später faktisch entkräftet.
Polarisierung
Zunehmende Spaltung gesellschaftlicher oder politischer Debatten in zwei Lager, die sich gegenseitig ausschließen. In der Causa Brosius-Gersdorf sichtbar als gesellschaftliche Zerreißprobe und parteiinterne Zerspaltenheit.
Populismus
Politische Strategie, durch einfache, emotionalisierende Botschaften und Polarisierung Zustimmung zu gewinnen. Im aktuellen Kontext auch Methode zur Mobilisierung gegen bestimmte Kandidatinnen oder Institutionen.
Projektionsfläche
Person, auf die gesellschaftliche Ängste, Erwartungen oder Kontroversen übertragen werden. Im Fall Brosius-Gersdorf wurden auf sie vielfältige, teils widersprüchliche Erwartungen und Ängste projiziert.
Richterwahl
Formelles politisches Verfahren zur Auswahl von Richterinnen und Richtern für das Bundesverfassungsgericht.
Selbstgespräch / Echokammer Siehe Echokammer.
Sexismus
Siehe Frauenfeindlichkeit.
Shitstorm
Plötzliche, massenhafte Kritik oder Anfeindung im Internet, oft mit persönlicher Diffamierung und gezielter Mobilisierung.
Social Media
Digitale Plattformen zur Veröffentlichung und Verbreitung von Meinungen, Kampagnen und Narrativen. Im Fall Brosius-Gersdorf verstärkter Austausch und Zuspitzung von Kritik.
Söder, Markus
Ministerpräsident Bayerns und Vorsitzender der CSU. Äußerte sich zur Causa Brosius-Gersdorf aus bayerischer Perspektive und leitete damit publizistische und parteipolitische Dynamiken ein.
Täter-Opfer-Umkehr
Siehe Opfer-Täter-Umkehr.
Unwählbarkeit
Im politischen Sprachgebrauch gebrauchte Zuschreibung, dass eine Kandidatur aus verschiedenen Gründen nicht mehrheitsfähig sei. Im Kontext der Causa Brosius-Gersdorf häufig in Kampagnen gegen die Kandidatin verwendet.
Verfassungsordnung
Gesamtheit der rechtlichen und politischen Prinzipien, wie sie im Grundgesetz und in der Verfassungswirklichkeit verankert sind. Die Unabhängigkeit der Justiz ist ihr zentraler Bestandteil.
Zerspaltenheit / Spaltung
Innere Zerrissenheit einer Partei oder Gesellschaft, bedingt durch Richtungsstreit, Polarisierung und widersprüchliche Positionen. In der Causa Brosius-Gersdorf sichtbar zwischen Parteispitze, Fraktion und Basis.
ZuschreibungÜbertragung bestimmter Eigenschaften, Haltungen oder Rollen auf eine Person oder Gruppe, meist losgelöst von deren tatsächlichem Können oder Handeln.