Richard Krauss
1. Juli 2025
Deutliche Zurechtweisung von Merz und Dobrindt
durch den Präsidenten des BVerwG Korbmacher

Im Kontext der aktuellen Debatte um die Zurückweisung von Asylsuchenden an den deutschen Grenzen hat der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, Andreas Korbmacher, jüngst mit bemerkenswerter Klarheit Stellung bezogen. Seine Äußerungen verdeutlichen nicht nur die juristische Brisanz der Thematik, sondern auch die wachsenden Spannungen zwischen Exekutive und Judikative im Umgang mit migrationspolitischen Herausforderungen.
Korbmacher äußerte erhebliche Zweifel an der langfristigen Tragfähigkeit des derzeitigen Regierungskurses. Hintergrund ist ein Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 2. Juni 2025, das die Zurückweisung dreier somalischer Asylsuchender an der deutsch-polnischen Grenze für rechtswidrig erklärte. Das Gericht stellte fest, dass Deutschland nach der sogenannten Dublin-III-Verordnung verpflichtet ist, ein Asylgesuch auf deutschem Boden zu prüfen und das entsprechende Verfahren einzuleiten, statt die Betroffenen ohne Einzelfallprüfung zurückzuweisen.
Die Bundesregierung hatte sich in ihrer Praxis auf eine Notlage berufen, die nach Auffassung des Gerichts jedoch nicht vorlag.
Besonders kritisch setzte sich Korbmacher mit der Einordnung des Urteils durch Bundesinnenminister Dobrindt auseinander, der die Entscheidung als bloßes „Einzelfallurteil“ abtat. Korbmacher widersprach dieser Einschätzung deutlich:
Das Verwaltungsgericht sei im Eilverfahren sowohl erst- als auch letztinstanzlich zuständig – eine bewusste politische Entscheidung, um schnelle und abschließende Urteile zu ermöglichen. Daraus folge, dass die Gerichte verpflichtet seien, die Rechtslage besonders sorgfältig zu prüfen. Die Berliner Richter hätten dies im vorliegenden Fall auch getan.
Korbmacher betonte, dass die Bundesregierung gut beraten wäre, die Urteilsbegründung ernsthaft zu prüfen und die eigene Praxis gegebenenfalls zu überdenken. Sollte es zu weiteren ähnlichen Gerichtsentscheidungen kommen, werde es für die Bundesregierung immer schwieriger, an ihrer bisherigen Linie festzuhalten. Die politische Entscheidung, das Verwaltungsgericht als letztinstanzlich einzusetzen, könne dem Innenministerium nun „auf die Füße fallen“, so Korbmacher.
Rechtsfolgen bei fortgesetzter Missachtung gerichtlicher Entscheidungen
Sollte die Bundesregierung – insbesondere das Bundeskanzleramt und das Bundesinnenministerium – weiterhin an der Praxis festhalten und gerichtliche Entscheidungen ignorieren, wären erhebliche rechtliche und politische Konsequenzen zu erwarten. Verfassungsrechtlich könnte ein Eskalationsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht eingeleitet werden. Im äußersten Fall sieht das Grundgesetz mit dem sogenannten „Bundeszwang“ (Art. 37 GG) sogar die Möglichkeit vor, dass der Bund Maßnahmen gegen ein Bundesland oder ein Ministerium ergreift, um Recht und Gesetz durchzusetzen – ein bislang nie angewandtes, aber theoretisch vorhandenes Instrument.
Auf europäischer Ebene drohen Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), da die fortgesetzte Missachtung der Dublin-III-Verordnung einen klaren Bruch des Unionsrechts darstellen würde. Die EU-Kommission könnte ein förmliches Mahnverfahren einleiten, das im Fall einer Verurteilung zu empfindlichen Strafzahlungen für Deutschland führen kann.
Auch auf individueller Ebene könnten Amtshaftungsansprüche gegen die Bundesrepublik geltend gemacht werden, wenn abgewiesene Asylsuchende nachweislich rechtswidrig behandelt wurden. Zudem besteht für Beamte, die wissentlich rechtswidrige Anweisungen umsetzen, ein strafrechtliches Risiko – etwa wegen Rechtsbeugung oder Freiheitsberaubung.
Politisch wäre mit einem erheblichen Vertrauensverlust in den Rechtsstaat zu rechnen. Der Bundestag könnte parlamentarische Kontrollmechanismen aktivieren, etwa durch Untersuchungsausschüsse oder ein Misstrauensvotum gegen den Innenminister. Verwaltungsintern könnten Gerichte bei fortgesetztem Ungehorsam Zwangsgelder verhängen oder Ersatzvornahmen anordnen.
Nicht zuletzt würde eine einseitige Suspendierung des Dublin-Systems auch die europäische Solidarität und die Funktionsfähigkeit des Schengen-Raums gefährden. Andere EU-Staaten könnten als Reaktion ihrerseits Grenzkontrollen gegenüber Deutschland einführen, und die EU-Kommission hat in ähnlichen Fällen bereits Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.
Diese Intervention des Gerichtspräsidenten ist somit ein deutliches Signal an die politische Führung, rechtsstaatliche und europarechtliche Standards im Umgang mit Schutzsuchenden nicht zu unterlaufen. Sie mahnt zu einer verantwortungsvollen und rechtstreuen Politikgestaltung – gerade in einer Zeit, in der migrationspolitische Fragen die gesellschaftliche Debatte maßgeblich prägen.
Quellen:
Glossar
Asylsuchende: Menschen, die internationalen Schutz vor politischer Verfolgung oder existenzieller Bedrohung begehren und sich in einem schwebenden Verfahren der Statusklärung befinden.
Bundesverwaltungsgericht: Höchste Instanz der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit, maßgeblich für die Auslegung und Fortentwicklung des öffentlichen Rechts.
Dublin-III-Verordnung: Supranationale Rechtsnorm der Europäischen Union zur Bestimmung der primären Verantwortung eines Mitgliedstaates für die Durchführung von Asylverfahren.
Einzelfallprüfung: Fundamentales rechtsstaatliches Prinzip, das die individualisierte und sachgerechte Bewertung jedes Antrags sicherstellt und pauschalisierende Exekutivmaßnahmen ausschließt.
Exekutive: Staatsgewalt, die für die praktische Umsetzung und Durchsetzung gesetzlicher Normen verantwortlich zeichnet.
Judikative: Unabhängige Gewalt, die durch richterliche Entscheidungsmacht die Einhaltung von Recht und Gesetz garantiert und staatliches Handeln kontrolliert.
Schengen-Raum: Integrationsraum der Europäischen Union, der durch den weitgehenden Wegfall innereuropäischer Grenzkontrollen die Freizügigkeit als zentrales Integrationsgut realisiert.
Souveränität: Die originäre, ungeteilte Entscheidungsgewalt eines Staates über sein Territorium und seine Rechtsordnung, insbesondere im Kontext migrationspolitischer Selbstbestimmung.
Vertragsverletzungsverfahren: Juristisches Instrument der Europäischen Union zur Sanktionierung von Mitgliedsstaaten, die gegen verbindliches Unionsrecht verstoßen.
aktualisiert 01.07.2025 - 17:20