Richard Krauss
30. Juli 2024
5%-Sperrklausel als verfassungswidrig erklärt, vorläufig weiter in Kraft
KARLSRUHE / BERLIN: Das Bundesverfassungsgericht hat das Bundeswahlgesetz 2023 einer umfassenden Prüfung unterzogen und am 30. Juli 2024 ein wegweisendes Urteil gefällt. Das Gericht bestätigte die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes in weiten Teilen, erklärte jedoch die 5%-Sperrklausel für verfassungswidrig, behielt diese jedoch vorläufig mit bestimmten Auflagen bei.
Zunächst erklärte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts, dass das Zweitstimmendeckungsverfahren im Bundeswahlgesetz verfassungsgemäß sei. Nach diesem Verfahren erhalten Wahlkreiskandidaten, die die meisten Erststimmen erzielen, nur dann ein Mandat, wenn dies durch das Zweitstimmenergebnis ihrer Partei gedeckt ist. Dieses Verfahren steht im Einklang mit den Wahlgrundsätzen des Grundgesetzes und verletzt weder die Wahlgleichheit noch die Chancengleichheit der Parteien.
Hingegen wurde die 5%-Sperrklausel im Bundeswahlgesetz für verfassungswidrig erklärt. Diese Regelung besagt, dass Parteien, die bundesweit weniger als 5% der Zweitstimmen erhalten, bei der Sitzverteilung im Bundestag nicht berücksichtigt werden. Das Gericht entschied, dass diese Klausel gegen Artikel 21 Absatz 1 und Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes verstößt. Gleichwohl gilt die 5%-Sperrklausel vorläufig weiter, jedoch mit der Maßgabe, dass Parteien mit weniger als 5% der Zweitstimmen nur dann ausgeschlossen werden, wenn ihre Kandidaten in weniger als drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen auf sich vereinen konnten.
Die Entscheidung basiert auf einer Reihe von Normenkontrollklagen, unter anderem von der Bayerischen Staatsregierung, 195 Mitgliedern der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sowie der Partei DIE LINKE. Die Kläger wandten sich sowohl gegen das neu eingeführte Zweitstimmendeckungsverfahren als auch gegen die 5%-Sperrklausel, die sie als unvereinbar mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen betrachteten.
Der Senat argumentierte, dass das Zweitstimmendeckungsverfahren die grundsätzlichen Wahlrechtsprinzipien respektiere und innerhalb des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers liege. Die Wahlrechtsreform zielt darauf ab, die Größe des Bundestages zu regulieren und die Repräsentation der Wählerstimmen angemessen zu gestalten. Durch die Neuregelung wird sichergestellt, dass alle Abgeordneten durch die Zweitstimmen ihrer Partei legitimiert sind, was zur Einhaltung des Proporzprinzips beiträgt.
Im Gegensatz dazu wurde die 5%-Sperrklausel als unverhältnismäßig beurteilt, da sie unter den derzeitigen rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen nicht notwendig ist, um die Funktionsfähigkeit des Bundestages zu gewährleisten. Das Gericht stellte fest, dass die Arbeitsfähigkeit des Parlaments auch dann sichergestellt sei, wenn Parteien, die in dauerhafter Kooperation stehen und gemeinsam die 5%-Hürde überwinden könnten, berücksichtigt werden.
Das Urteil verpflichtet den Gesetzgeber, die Sperrklausel neu zu formulieren, um sie an die verfassungsrechtlichen Anforderungen anzupassen. Bis zu einer entsprechenden Neuregelung bleibt die aktuelle Regelung in Kraft, um kurzfristige Auswirkungen auf die Bundestagswahl zu vermeiden und das Vertrauen der Wähler in die Stabilität des Wahlrechts zu sichern.
Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts betont die Bedeutung der Chancengleichheit im politischen Wettbewerb und stärkt die demokratischen Grundprinzipien der Bundesrepublik Deutschland.